Henz Si scho e Wohnig?
Seit dem Eröffnungsfest im Oktober 2023 hat das Henz-Areal in der Nähe von Aarau eine vielfältige Mieterschaft angezogen. Unter den Bewohnenden wurden schnell neue Beziehungen geknüpft, und viele engagieren sich für die Gemeinschaft. Ein soziokulturelles Konzept und der Henz-Franken unterstützen diesen Prozess.

Was ist Suhr, was will Suhr sein? Ein Dorf im Grünen, Agglo von Aarau oder Stadt? Die Situation ist ungeklärt: Die Suhrentalbahn ist die Stadtbahn der Aargau Verkehr AG, am Bahnhof werden Industrieflächen zu städtischem Wohnen verdichtet, und das Henz-Hochhaus überragt mit seinen vierzig Metern alle übrigen Dächer. Auf der anderen Seite der dreispurigen Stadtautobahn bildet der Gasthof zum Kreuz von 1610 den Auftakt zum historischen Ortskern. Die Kinder gehen zu Fuss, mit dem Velo oder Trottinett zur Schule. Fachwerkhäuser, eine zu Wohnungen transformierte Spinnerei und die reformierte Kirche auf dem Hügel prägen das Dorfbild. Das Gemeindehaus und das ehemalige Schulhaus wurden bereits vor 1900 im städtischen Massstab geplant. Der Gemeinderat setzt sich stark für den Zusammenhalt ein. Jedes Quartier hat deshalb eigene Quartierverantwortliche. Es scheint, als könne das Selbstbild von Suhr die verschiedenen Eigenschaften in sich vereinen. Doch unabhängig davon, ob Suhr eine eigene Stadt oder ein Quartier von Aarau wird: Es braucht ein eigenes Zentrum.


Transformation des Bahnhofs
Der Bahnhof von Suhr war über Jahrzehnte umgeben von Industrie: Milchverband, Migros-Verteilzentrum, Chocolat Frey oder Henz Stahlhandel. Beim Start der Planung des Henz-Areals war das Bild vom Bahnhofsgebiet als unbewohnbarem Ort noch stark in den Köpfen verankert, trotz der bereits erfolgten Transformation im Norden. Wer würde da überhaupt wohnen wollen? Noch immer kursierte das Stereotyp vom Hochhaus der 1960er-Jahre als vertikales Ghetto, dazu hatten die Quartiere südlich der Bahngleise einen schlechten Ruf. Und schliesslich machte sich die Bevölkerung auch praktische Sorgen über die Verkehrsüberlastung und das Parkieren im Quartier – nicht ganz unbegründet, wie sich heute zeigt. Entsprechend knapp war das Abstimmungsresultat zum Gestaltungsplan. Ganze sechs Stimmen haben den Unterschied gemacht.

Aufwertung oder Gentrifizierung?
Ab 2015 nahm sich die Halter AG des Projekts an. Henz Stahlhandel war bereits seit einigen Jahren geschlossen, nun sollte das Areal entwickelt werden. 2016 führte Halter darum einen Studienauftrag durch, den SSA Architekten gewann. Die Planung bedingte eine Teilrevision des Zonenplans und sah ein Hochhauskonzept vor. Als Investor kam die PKE Vorsorgestiftung Energie dazu. Seit dem Bezug 2023 ist die Bevölkerung positiv eingestellt, nicht zuletzt, weil das Gemeindebudget von den zusätzlichen Steuereinnahmen und vom Mehrwertausgleich profitiert. Parallel wurden die Siedlungen in der Umgebung saniert und der Anteil an Sozialwohnungen reduziert. Die Aufwertung ist bereits spürbar. Die gute Anbindung an die Schweizer Grosszentren führt dazu, dass viele neue Bewohnende pendeln – nach Aarau, Bern oder Zürich. Damit steigen in Suhr die Wohnungspreise. Wenn sie für die Mittelklasse zu hoch werden, könnte die Aufwertung als Gentrifizierung gelten.
Das Henz-Konzept
Entstanden sind 202 Wohnungen nach den Standards der 2000-Watt-Gesellschaft. Die Dichte von 1,9 wurde mittels eines kleinen Hochhauses und drei vier- bis sechsgeschossigen Zeilenbauten erreicht. Gassen, grüne, halb offene Höfe und ein zentraler Platz bieten unterschiedliche Aufenthaltsmöglichkeiten. Das Gewerbe wurde an dieser Lage auf ein Minimum reduziert: Im Hochhaus befinden sich vier Flächen, die im Stockwerkeigentum veräussert wurden. Nur im Fall der Pizzeria ist der Käufer auch der Nutzer, die anderen dienen als Investment. Ein Coiffeur und ein Fitnessstudio sind bereits eingezogen. Das Wohnungsangebot ist mit einer Mischung aus Eigentum und Miete, durchgesteckten Atelierwohnungen in Überhöhe, Kleinwohnungen mit verschiebbaren MOVEment-Möbelmodulen, Familienwohnungen sowie 3- und 4-Zimmer-Wohnungen sehr breit und preislich im Mittelfeld angesiedelt. Die Aussenräume wurden sorgfältig gestaltet. Es gibt einen zentralen Platz mit Wasserspiel, Erschliessungsgassen mit hohem Öffentlichkeitsgrad und Höfe, die Rückzug ermöglichen und Geborgenheit vermitteln. Da die Tiefgarage fast unter dem gesamten Areal liegt, wurden für einzelne Bäume Gruben ausgespart, damit sie richtig wachsen können. Die Böden sind zu weiten Teilen entsiegelt und biodivers gestaltet.
Gemeinschaft aktiv fordern
Eine der Auflagen der Gemeinde war ein soziokulturelles Konzept: Wie kann Gemeinschaft in der Siedlung und im Quartier gefördert werden? Die Soziologin Joëlle Zimmerli hat die Grundlagen erarbeitet, das Unternehmen Itoba setzt sie um. Ivo Richner von Itoba konnte Halter davon überzeugen, den Park nutzungsneutral zu realisieren und die Ausstattung erst nach Bezug gemeinsam mit den Bewohnenden zu entwerfen. «Die Bedürfnisse sind sehr verschieden», so Richner. Gewünscht wurden unter anderem ein Brunnen, eine Nestschaukel, eine Fitnessanlage und ein Windschutz für den offenen Pavillon. Finanziert wurden der Prozess und die Ausstattung über die budgetierten Baukosten sowie den Mehrwertfonds der Gemeinde. Für künftige Veranstaltungen und Arbeiten bezahlen alle Mieter und Eigentümer einen Franken pro Quadratmeter Wohnfläche im Jahr: den Henz-Franken. Der Vertrag mit Itoba läuft im Sommer 2025 aus. Dann wird ein Verein der Bewohnenden die Arbeit übernehmen. Einzelne Personen sind bereits heute sehr engagiert.
Die Quartiermacherinnen
Anne Jaggy und Florence Blanckarts waren massgeblich an der Ausstattung der beiden Gemeinschaftsräume mit Fernseher und Küche beteiligt. Sie werden für Veranstaltungen sowie als Fitnessraum genutzt. «Geplant war ursprünglich eine Velowerkstatt, aber die wollte hier niemand», sagt Blanckarts. Sie arbeitet als Laser-Ingenieurin in Glattbrugg, Jaggy bei der Amag in Cham – beide sind mit dem ÖV unterwegs. Überrascht hat sie die Offenheit und die Kontaktfreudigkeit vieler Bewohnenden. Die Nachbarschaft hat einen Whats-App-Chat eingerichtet für Fragen und als Hilfe. Generell bestehe ein guter Zusammenhalt. Wertvoll dafür waren das Eröffnungsfest sowie durch Itoba organisierte Spiele und Essen. Doch es brauche auch Eigeninitiative und wiederkehrende Veranstaltungen. Selten funktioniert eine Gemeinschaft ohne Konflikte. Einige Nachbarinnen und Nachbarn beklagten sich über das laute Plätschern des Brunnens, der direkt an der viel befahrenen Gränicherstrasse liegt.
Das Bindeglied
«Seit der Brunnen nur noch jede halbe Stunde läuft, spielen hier viel weniger Kinder», sagt Dursun Ilhan. Er ist der Eigentümer und Betreiber des Restaurants Pizza Traum direkt am Platz. Nach eigener Aussage kennt er rund achtzig Prozent der Quartierbewohnenden, auch wenn er selbst nicht im Henz wohnt. Kein Wunder, denn seine Gastfreundlichkeit ist mitreissend. Obwohl Ruhetag ist, hat er für den Journalisten den Ofen angeworfen: Er ist stolz auf sein Produkt, für das sein Lokal 2022 zur besten Pizzeria im «Argovialand» gekürt wurde. Bald öffnet sich die Türe, und ein älteres Paar fragt vorsichtig, ob denn heute offen sei. «Natürlich!», schwindelt Ilhan und verschwindet in der Küche. Das Restaurant ist ein Familienbetrieb: Die Frau, der Sohn und die älteste Tochter arbeiten alle mit; drei Studierende fahren die Pizzas aus. Nach und nach treffen mehr Leute ein, die meisten bekannte Gesichter. Durchs Fenster winkt Özden Kurutas, ein Stammkunde.
Der Aufsteiger
Bei Henz Stahlhandel hat Özden Kurutas seine Schlosserlehre absolviert und dann für den Betrieb eingekauft. Nun bewohnt er mit seinen zwei Schlangen eine Eigentumswohnung im Hochhaus. Über ABB, Alstom und ein Nachdiplom kam er zum Bereich Unterhalt der SBB. Gewohnt hat er zuvor in Küttigen und Baden, jetzt schätzt er die Ruhe von Suhr. Im Quartier hat er schon Kontakte geknüpft, aber noch zu wenige. «Viele Eigentumswohnungen werden vermietet», sagt Kurutas. Er mag die Pizzeria und die Veranstaltungen von Itoba. «Ich freue mich auf den gemeinsamen Park und die kommenden Verdichtungsprojekte am Bahnhof von Suhr.»
Die Zurückgezogene
Rosa Ineichen lebt fast ganz oben im Hochhaus. Sie schätzt die Ruhe in der Höhe. Ihre Arbeit als Pflegeleiterin im Altersheim ist fordernd, nicht zuletzt, weil immer zu wenig Personal zur Verfügung steht. Doch der Umgang mit den älteren Menschen erfüllt sie. Nun hatte sie Glück und konnte sich eine Eigentumswohnung leisten. Sie lebt gern im Quartier und lobt die bauliche Qualität. Etwas Zweifel hat sie an den biodivers gestalteten Aussenräumen: «Sie wirken unordentlich, und irgendwo braucht es doch auch ein Stück Rasen.» Trotzdem sieht sie immer wieder Kinder, die fröhlich um die Häuser rennen.


Ein Quartier?
Mit den unterschiedlichen Situationen, Wohnungstypen und Eigentumsformen wird das Henz-Areal vielen Ansprüchen gerecht. Die Bewohnenden sind entsprechend divers. Der Zusammenhalt im Quartier entstand jedoch nicht von allein. Gerade bei Neubauprojekten zeigt sich, dass guter Städtebau und durchdachte Aussenräume essenziell sind für das Gemeinschaftsleben, allein jedoch nicht ausreichen. Es braucht einen organisierten Effort wie ein Eröffnungsfest, wiederkehrende Veranstaltungen und Orte für zufällige Treffen – oder gar professionelle Soziokultur, um das Kennenlernen und Vernetzen zu ermöglichen. Das Henz-Areal beweist, dass dies auch bei nicht genossenschaftlichen Projekten gut funktionieren kann.
