Aufbruch mit der Genossenschaftsidee
Das Wohnungsangebot in den grossen Zentren ist zu gering und für weniger gut Verdienende meist unerschwinglich. Zwei neue Wohnbaugenossenschaften in der Stadt Bern eröffnen nun ein neues Kapitel für die gemeinnützigen Bauträger in der Schweiz: Das von der Halter-Gruppe initiierte Projekt Huebergass wird zu einer Mietergenossenschaft. Die Genossenschaft «Wir sind Stadtgarten» soll das Modell als Entwicklungspartner schweizweit verbreiten.
Günstigen Wohnraum anzubieten, ist angesichts hoher Mieten und knappen Angebotes in vielen Städten der Schweiz ein Gebot der Stunde – und oftmals Vorgabe für Ausschreibungen bei Projekten, die auf öffentlichen Grundstücken geplant werden sollen. Auch in der Stadt Bern, wo das Stimmvolk 2014 eine «Wohninitiative» angenommen hat, gilt diese Massgabe. Sie war eines der Elemente für einen kombinierten Wettbewerb für die geplante Wohnsiedlung und den angrenzenden Stadtteilpark des Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik der Stadt Bern.
Unter gemeinnützigen Wohnbauträgern wurde eine Bietergemeinschaft gesucht, die Planung, Finanzierung, Baurealisation und Betrieb einer Siedlung auf einem Areal an der Mutachstrasse übernehmen kann. Die Jury mass bei der Beurteilung der Wettbewerbsbeiträge folgenden Kriterien eine hohe Bedeutung bei: der Schaffung von preisgünstigem Wohnraum bei kostendeckender Rendite, einer nachhaltigen Bauweise und der Vernetzung der Bauten mit dem angrenzenden Stadtteilpark Holligen-Nord.
Aus zehn eingereichten Projekten kürte das Beurteilungsgremium schliesslich einstimmig das Projekt Huebergass zum Gewinner des Wettbewerbs, mit der neu zu gründenden Genossenschaft «Wir sind Stadtgarten» und der Halter AG als Initiantin, dem Büro GWJ Architektur aus Bern, ASP Landschaftsarchitekten aus Zürich sowie dem Berner Sozialplaner Martin Beutler als Partnern. Überzeugt habe unter anderem die konsequente Ausrichtung des Projekts auf die Nachbarschaft, begründete die Jury ihren Entscheid.
Ungewöhnlich an diesem Wettbewerb war das Vorgehen. Statt wie andernorts üblich zuerst einen Bauträger auszuwählen, ihm das Grundstück im Baurecht abzugeben und zu einem anschliessenden Architekturwettbewerb zu verpflichten, entschieden sich die Verantwortlichen in Bern für einen anonymen Wettbewerb mit Teams aus Planern und Investoren. Dass hinter dem siegreichen Projekt mit der Halter AG ein Immobilienentwickler steht, gab Anlass zu kontroversen Diskussionen innerhalb der Wohnbaugenossenschaften (WBG).
100 Jahre Tradition
Für das gut 100 Jahre alte Unternehmen Halter bedeutet das Modell keineswegs Neuland. Schon im Jahr 1922 hatte die Firma eine Genossenschaft gegründet mit dem Zweck, deren Mitgliedern «unter Mithülfe von Staat und Gemeinde durch Erstellung von Kolonien mit Zwei- und Mehrfamilienhäusern billige Wohnungen zum Verkauf oder durch Vermietung zu verschaffen». Artikel 2 der Statuten hielt damals fest: «Die Genossenschaft beabsichtigt keine Gewinnerzielung. Die Spekulation mit Liegenschaften auf den Grundstücken der Baugenossenschaft ist für alle Zeiten wegbedungen.» Neben den eigenen Genossenschaftsprojekten realisierte Halter in den 1920er-Jahren unter anderem auch für die Eisenbahner Baugenossenschaft zahlreiche Wohnbauten.
95 Jahre später greift die frisch gegründete Genossenschaft «Wir sind Stadtgarten» das damalige Gedankengut wieder auf. Nach dem Vorliegen der Baubewilligung im Frühjahr 2019 erfolgte im August der Spatenstich. Bezugsbereit wird die Überbauung Huebergass mit ihren 103 Wohneinheiten voraussichtlich Anfang 2021.
Das vorgesehene Wohnungsspektrum soll zu einer vielfältigen Durchmischung der Bewohnerschaft und zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen. Das Angebot ist mehrheitlich auf Familien ausgerichtet, für die es 4,5- und 5,5-Zimmer-Wohnungen gibt, bietet aber mit Wohnateliers, Cluster-Wohnungen und Einheiten, die über 1,5, 2,5 und 3,5 Zimmer verfügen, auch Einpersonen- und Paarhaushalten sowie anderen Nutzungsformen entsprechenden Platz. Gemeinschaftsräume, Co-Working-Plätze, Garten- und Jokerzimmer sowie eine Kindertagesstätte, ein Quartierraum und ein Café ergänzen den Mix. Im Mobilitätskonzept sind Mobility-Stellplätze am Rand der Siedlung und Beiträge an das Abonnement für den öffentlichen Nahverkehr vorgesehen.
Die Stadt Bern hatte für das Projekt einerseits einen günstigen Baurechtszins von 16 Franken pro Quadratmeter Bruttogeschossfläche gewährt, dafür aber das Prinzip der Kostenmiete als Vorgabe und die Gemeinnützigkeit festgelegt. Der jährliche Nettomietzins sollte 187 Franken pro Quadratmeter Hauptnutzfläche nicht überschreiten. Um diese Auflage zu erfüllen, setzte Halter auf die eigenen Erfahrungen in der Erstellung von Wohnbauten und auf die Erkenntnisse der Studie «Günstiger Mietwohnungsbau ist möglich», die das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) 2012 zusammen mit Halter und Pensimo veröffentlichte.
Einsparungen sind möglich
Ausgangspunkt der Studie war die Tatsache, dass der Bestand an günstigen Wohnungen, die nicht mehr dem heute «gängigen» Wohnungsneubau entsprechen, aber vom Markt meist sofort absorbiert werden, bei Sanierungen oder Ersatzneubauten sukzessive verschwinden. Die so entstehende Lücke zwischen der Nachfrage nach solchen Wohnungen und dem Angebot könnte nach Ansicht der Studienautoren durch entsprechend konzipierte Projekte geschlossen werden.
Als grössten Hebel zur Reduktion der Bruttomonatsmiete identifizierten sie die Fläche pro Wohnung. Zeitgemässe Grundrisse, die optimiert und effizient in einem Gebäudekörper angeordnet sind, ermöglichen diese Flächenreduktion. Einsparungen bei den Erstellungskosten lassen sich auch bei Ausrüstung und Materialien, der Nutzung von Skaleneffekten durch Standardisierung von Bauteilen und der Projektgrösse sowie bei der Berücksichtigung der Lebenszykluskosten von Bauteilen erreichen.
Nötig sind ferner eine konsequente Ausrichtung des Wohnungsangebots auf die Zielgruppe, eine stringente Projektentwicklung und -steuerung sowie die transparente Regelung der Zusammenarbeit aller in das Projekt involvierten Personen und Firmen. Wichtig sei zudem, während der Bauphase auf Änderungen zu verzichten, sagen Praktiker.
Auch beim Ausbaustandard sind Abstriche möglich, ohne auf allzu viel zu verzichten. So lässt sich einiges an Fläche und Budget einsparen mit der Anzahl und Grösse von Nebenräumen, zum Beispiel von Kellerabteilen, dem Weglassen von Reduits in den Wohnungen, gemeinsamen Waschküchen, dem Einsatz von Standardapparaturen sowie dem Verzicht Immobilien & Kapital auf Einbauten, Schiebetüren und Querverbindungen zwischen den Zimmern. Gleiches gilt für die Konzeption von Treppenhäusern im baurechtlich nötigen Rahmen.
Die 2012 erstellte Studie «Günstiger Wohnungsbau ist möglich» stiess in Fachkreisen auf ein grosses Echo. Ihre Schlussfolgerungen wurden nicht nur im freien Immobilienmarkt, sondern auch im gemeinnützigen Wohnungsbau aufgegriffen und hier und dort bereits umgesetzt.
Auf das Wesentliche fokussiert
Auch für die WBG Huebergass sind einfach strukturierte Baukörper, auf das Wesentliche fokussierte Grundrisse und geringere Zirkulationsflächen Ansätze, die Baukosten im Griff zu halten. Volumen wird daher nur dort gebaut, wo es wirklich gebraucht wird. So soll es möglich werden, die Zielvorgabe bezüglich der Miete wesentlich zu unterschreiten und die grössten Familienwohnungen für rund 200 Franken Monatsmiete pro Zimmer anzubieten.
Einkommens- und Vermögensgrenzen sowie Belegungsvorgaben sollen dafür sorgen, dass von den günstigen Mietzinsen diejenigen profitieren, die bezahlbaren Wohnraum auf dem freien Markt nur schwer finden. Einen gewissen Komfortstandard, der zum Teil deutlich über die gesetzlichen Minimalvorgaben hinausgeht, bieten die Wohnungen aber gleichwohl.
Das Projekt Huebergass verinnerlicht dabei konsequent die Ideale des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Während der Wettbewerbsphase erarbeiteten die sieben Gründungsmitglieder, darunter vier Mitarbeitende von Halter und drei Externe, neben dem Projekt die Strukturen der künftigen Wohnbaugenossenschaft – die Statuten und Mieterreglemente. Nach dem Wettbewerbserfolg im Jahr 2017 gründeten sie die WBG «Wir sind Stadtgarten», die sich 2019 in Huebergass umbenannte. Zugleich wurde «Wir sind Stadtgarten» mit neuer inhaltlicher Ausrichtung erneut gegründet. Diese Genossenschaft soll künftig weitere WBG-Projekte initiieren und auf den Weg bringen. Das Projekt in Bern wird dafür die erste Referenz sein.
Modellcharakter sollen auch die Bemühungen um eine funktionierende, gute Gemeinschaft innerhalb der künftigen Bewohnerschaft haben. So hat bereits ein sogenannter Gesellschaftsgärtner seine Arbeit aufgenommen, der in Zusammenarbeit mit mehreren Arbeitsgruppen die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft – und den Dialog mit der Quartierbevölkerung voranbringen soll.
Wirtschaftlich tragbare Lebensräume
Die beiden jungen Genossenschaften sind dem Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz und dessen Regionalverband Bern-Solothurn beigetreten und suchen den Austausch und die Begegnung mit anderen WBG. Erklärter Anspruch ist, sowohl bei der Entwicklung von neuen Projekten als auch in der Umsetzung «wirtschaftlich tragbare Lebensräume zu entwickeln und zu realisieren».
Auch damit stellen sich die Berner Initianten in die über 100 Jahre alte Tradition der Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz: Am 20. September 1919 gründeten Behördenvertreter, Architekten und Politiker in Olten den Schweizerischen Verband zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus, dem sich schon im ersten Jahr seines Bestehens 57 Genossenschaften anschlossen. In der Folge wurden Grundlagen, Musterstatuten, Normen und Musterhäuser erstellt sowie Tagungen, Beratungen, Ausstellungen und Besichtigungen rund um das Bauen organisiert.
Schon 1921 sprach der Bund Mittel für einen Baufonds von 200 000 Franken für Wohnungen für «wenig Bemittelte». Er war der Vorläufer des Fonds de Roulement, der Genossenschaften bis heute zinsgünstige, rückzahlbare Darlehen gewährt. 1956 beteiligte man sich an einer neuen Hypothekar-Bürgschaftsgenossenschaft (HBG), die seitdem die Finanzierung gemeinnütziger Wohnbauten erleichtert. 2002 entwickelte der Verband ein Leitbild und formulierte gemeinsam mit den anderen Dachorganisationen und dem Bundesamt für Wohnungswesen eine Charta für gemeinnützige Wohnbauträger mit den Grundsätzen der Spekulationsfreiheit, Solidarität, Nachhaltigkeit, Mitgliederbeteiligung und Offenheit für alle. Festgehalten wurde auch: Wohnen ist ein Grundbedürfnis der Menschen.
Zahlreiche Instrumente für die Förderung
Um allen eine Wohnung zu tragbaren Bedingungen zu sichern, reichen die Marktkräfte allein nicht aus. Gemeinnützige Wohnbauträger wie Wohnbaugenossenschaften, Stiftungen sowie gemeinnützige Vereine und Aktiengesellschaften füllen diese Lücke. Der Anteil der WBG am Wohnungsbestand ist in der Schweiz zuletzt zurückgegangen und liegt derzeit bei nur noch knapp fünf Prozent.
Wie in Bern sind daher in vielen Städten und Gemeinden Bestrebungen im Gang, um WBG zu fördern, oft angestossen durch entsprechende Gesetzesinitiativen. Die Instrumente dafür sind zum einen raumplanerischer Art, wie die Abgabe von Land im Baurecht oder durch Verkauf, Anteile in der Nutzungsplanung oder Nutzungsprivilegien als Anreiz sowie Bauverpflichtungen und Kaufrecht. Zum anderen sind Finanzierungsinstrumente im Einsatz, etwa Beiträge für den Landerwerb oder günstigere Baurechtszinsen, günstige Darlehen, Bürgschaften oder A-fonds-perdu-Beiträge, etwa für energetische Massnahmen. Dazu gehören auch Beteiligungen der öffentlichen Hand am Anteilkapital, steuerliche Massnahmen sowie Beratungen, Projektbegleitungen und die Sensibilisierung von Gemeinden und Grundeigentümern.
Für die WBG «Wir sind Stadtgarten» und Huebergass kommen aus diesem relativ grossen Baukasten nur einzelne Elemente infrage. Sie können sich dank dem Know-how der Gründer weitgehend ohne Hilfe von aussen organisieren sowie finanzieren und leisten dennoch einen wertvollen Beitrag zum genossenschaftlichen Wohnen, dem «dritten Weg zwischen Miete und Wohneigentum».