Zu dritt und doch allein

Text
Manuel Joss
Fotos
Heinz Unger

Nur einen Steinwurf vom Bahnhof Frauenfeld entfernt sind auf dem Murgareal drei neue Mehrfamilienhäuser mit 82 Mietwohnungen, Einstellhalle und Gewerbenutzung entstanden. Durch die sorgfältige Setzung und Gestaltung der Gebäudekörper steht hier jetzt ein einheitlich anmutendes Geviert, das Innenstadt und Bahnhof mit dem Ufer der Murg verbindet. Bauherrschaft ist die Profond Anlagestiftung, die Halter AG wirkte als Gesamtleisterin nach Plänen von Burkhalter Sumi Architekten.

Frauenfeld ist lange Jahre vor allem an den Rändern gewachsen, ins fruchtbare Kulturland der Thurebene hinein. Die Hauptstadt des Kantons Thurgau verlegte aber schon vor einiger Zeit den Schwerpunkt auf die innere Verdichtung und die Aufwertung und Schaffung städtischer Naherholungsgebiete. Auch dadurch konnte sie im alljährlich stattfindenden Schweizer Städte-Ranking der Zeitschrift «Bilanz» mehrmals einige Plätze nach vorne rücken.

Die Überbauung Murgareal, früher Gewerbefläche, später SBB-Parkplatz, ist ein wichtiger Baustein auf der Agenda der Stadt. Das gut sichtbare, neue Geviert direkt beim Bahnhof stellt zugleich das Tor zum Naherholungsraum entlang der Murg, dem Lindenpark und dem flussabwärts gelegenen Murg-Auen-Park dar. Burkhalter Sumi Architekten gewannen den Wettbewerb im Jahr 2001 zusammen mit Vogt Landschaftsarchitektur und begleiteten das Projekt bis zur Fertigstellung. Die Gebäude sind klar gesetzt, sie bilden den Abschluss des Lindenparks und spannen zum Bahnhof hin einen Platz auf, an dem die Hauseingänge liegen. Belebt wird dieser durch Gewerbenutzungen im Erdgeschoss: Einige Praxen sind bereits eingezogen, ein Café wird folgen. Schon länger vor Ort ist das Programmkino Luna. Alles zusammen ergibt ein neues Quartierzentrum mit eigener Identität.

Zwischen den Längsseiten der Gebäude liegen nur zehn Meter. Die schmalen französischen Fenster werden durch Farbflächen optisch vergrössert.

Doppelspiel der Häuser

Eine Fortsetzung der Stadt zwischen Bahnhof und Murg zu bauen, ist nicht selbstverständlich. Die bestehenden Nachbargebäude sind in ihrer Form und Grösse sehr unterschiedlich: Gegenüber steht das historische Bahnhofsgebäude von Jakob Friedrich Wanner (auch bekannt als Erbauer der Hauptbahnhöfe Zürich und Winterthur), daneben das markante, lange «Haus am Bahnhof» aus dem Jahr 2000.

Um sich städtebaulich behaupten zu können und gleichzeitig guten Wohnraum zu bieten, treiben die drei Neubauten von Burkhalter Sumi Architekten ein Doppelspiel: Sie können zusammen als Riegel oder als Einzelgebäude gelesen werden. Der umlaufende, silberfarbene Besenputz und die rückspringende Erdgeschosszone betonen die äussere Einheit, die ein Gegenüber zur Bahnhofsfront bildet; die weiss gestrichenen Zwischenräume versichern, dass es sich hier um drei einzelne Bauten handelt, die den kleinteiligen Bebauungsrhythmus der hiesigen Seite der Bahnlinie weiterführen.

Die Eingangsrampen in Ocker, Rot und Blau richten sich nach dem Farbkonzept von Le Corbusier. Die Töne ziehen sich durchs ganze Gebäude.

Grundrisse und Zwischenräume

Die gut organisierten Wohngeschosse bilden das Herzstück dieser Überbauung, die beiden Zwischenräume machen ihre Besonderheit aus. Auf den ersten Blick erscheinen sie mit zehn Metern etwas schmal und erinnern an Innenhöfe. «Anders als bei vergleichbaren Projekten mit sechs Kleinwohnungen pro Geschoss haben wir hier alle Wohnräume an den beiden Stirnseiten angeordnet, gegen den Bahnhof im Südosten und die Murg mit der Baumreihe im Nordwesten.

Auf den Längsseiten dagegen liegen ausschliesslich Schlafräume ohne Balkone oder Loggien, dafür mit schmalen, hohen Fenstern. Diese bieten zwar keine Panorama-Aussicht, lassen aber reichlich Licht hinein», erklärt Yves Schihin, langjähriger Büropartner von Burkhalter Sumi Architekten, das ausgefeilte Zusammenwirken von Gebäuden, Grundriss und Materialisierung. Die Fenster sind zudem versetzt angeordnet, was Einblicke zum Nachbarhaus erschwert. Farbige Flächen auf Feinputz vergrössern sie optisch. Im Verlauf des Tages erzeugen Licht und Schatten eine starke eigene Atmosphäre, die an ein abstraktes Gemälde erinnert und unerwartet einen ruhigen Gegenpol zum umtriebigen Bahnhof bildet.

«Polychromie Architecturale»

Farbe und eine Reihe von Details verleihen den Gebäuden eine Sinnlichkeit, für die das Büro Burkhalter Sumi bekannt ist. Dazu Yves Schihin: «Eine farbige Wand oder Decke kostet wenig mehr als eine weisse, hat aber, richtig gesetzt, eine erstaunliche räumliche Wirkung.» Die Farbe – jedes Haus hat einen anderen Grundton – zieht sich von den Eingängen über die Treppenhäuser bis zu den Loggien.

Die Töne sind aus dem Konzept von Le Corbusier (1887–1965) gewählt, der sogenannten «Polychromie Architecturale». Le Corbusier hatte in den Jahren 1932 und 1959 zwei Farbklaviaturen entwickelt, um Architekten und Gestaltern frei wählbare Kombinationsmöglichkeiten anzubieten. Jeder der 70 Töne hat seine eigene Relevanz und spezifische Stimmung. Sie sind aus natürlichen Pigmenten wie Stein, Jurakalk und Muscheln gemischt und noch heute in aktualisierter Form erhältlich.

Auch wenn gerade der Modernismus mit strahlend weissen Fassaden in Verbindung gebracht wird, so sind die Gebäude aus dem Beginn dieser Architekturepoche innen wie aussen meist ausgesprochen farbig und nur selten monochrom. Dies, weil das Wissen um die Wirkung der Farben in den vorangegangenen Architekturepochen gross war. Le Corbusier selbst erhielt als Jugendlicher in La-Chaux-de-Fonds eine Ausbildung im Geist des Jugendstils. Auch wenn er sich später von dieser Epoche und besonders von ihren Ornamenten distanzierte, führte er doch die Tradition der farbigen Wände weiter. Denn auf diese Weise lassen sich Innenräume gestalten, auflösen oder verdichten. Dazu sagte er einmal: «Die Farbe ist in der Architektur ein ebenso kräftiges Mittel wie Grundriss und Schnitt, oder besser ausgedrückt, die Polychromie ist ein Bestandteil von Grundriss und Schnitt.»

Ein Vorhang auf der Loggia schützt die Bewohner vor Wind und Sonne.
Die rückspringenden Erdgeschosse betonen die äussere Einheit.

Detaillierung und Materialisierung

In den Wohnungen auf dem Murgareal finden sich bewährte Details von Burkhalter Sumi Architekten, wie schwarze Sockelleisten, die mit schwarzen Türrahmen ein Kontinuum bilden, und aussen angeschlagene Wohnungstüren. Zum Einsatz kommen aber auch Neuentwicklungen, zum Beispiel im Bereich der Loggien: Die Speier sind für einmal keine Röhrchen, die scheu aus der Fassade ragen, sondern Teile von expressiver Grösse; die Flachstahlstaketen der Geländer werden gegen die Seiten hin zunehmend abgedreht, was Einblicke erschwert und die Bastmätteli überflüssig machen soll, die oft von der Mieterschaft vors Geländer gehängt werden.

Weiter schützt ein farbiger Vorhang auf der Loggia die Bewohner vor Wind und Sonne. Ist er ganz zugezogen, fühlt man sich drinnen wie in einem Zelt. Dank dieses Vorhangs braucht die Fensterfront keine Rafflamellenstoren mit aufwendigen Anschlussdetails in der Decke und hervorstehenden Führungsschienen.

Versteckter Holzbau

Ein wichtiges, nachhaltiges Bauteil in diesem Projekt, das nicht gesondert in Erscheinung tritt, ist die Aussenwand. Diese besteht in allen Obergeschossen aus vorfabrizierten Holzbauelementen, die zwischen die betonierten Geschossdecken und Stützen montiert wurden. Sie sind zwar in der Anschaffung etwas teurer als eine gemauerte Massivwand, bieten dafür aber zwei entscheidende Vorteile: Die Montage ist blitzschnell, und es lässt sich Wohnfläche gewinnen, denn eine Holzwand ist inklusive Dämmung rund zehn Zentimeter dünner.

Bei einem Projekt dieser Grössenordnung mit über achtzig Wohnungen kommen da rasch ein paar Dutzend zusätzliche Quadratmeter Fläche zusammen. «Vorfabrizierte Holzelemente haben wir schon beim Projekt Pile Up Giesshübel mitten in Zürich erfolgreich benutzt und konnten diese Lösung deshalb auch hier empfehlen», sagt Yves Schihin.

Die drei Gebäude sind durch eine Einstellhalle miteinander verbunden.
Untergeschoss: Die Einstellhalle verfügt über 66 Plätze.
Erdgeschoss: Gewerbenutzungen sollen den Platz mit Leben füllen.
Regelgeschoss: Die Wohnungen liegen gegen die Murg oder den Bahnhof.
Situation: Links verläuft die Rampe zur Unterfahrung des Bahnhofsplatzes.

Rampe zur Unterfahrung

Der Ort hielt für die Planer aber noch eine weitere gestalterische Herausforderung bereit: Nur wenige Meter vom südlichsten Haus des Murgareals liegt eine der drei Zufahrtsrampen zur Unterfahrung des Bahnhofsplatzes. Diese ist ein wichtiges Tiefbauvorhaben des Projekts Bahnhof 2000 von SBB, Kanton und Stadt zur Umgestaltung des Bahnhofs. Jeder kann es virtuell auf Google Street View befahren.

Insgesamt drei Tunneläste treffen in einem unterirdischen Verkehrskreisel direkt unter dem Bahnhofsplatz zusammen, eine vierte Ausfahrt führt zum Parkhaus. Wer hier parkiert, ist rasch im Bahnhof oder in der Innenstadt von Frauenfeld, zudem wird der Verkehr rund um den Bahnhof entflochten: Unten fahren die Autos, an der Oberfläche bewegen sich der öffentliche Verkehr, Fussgänger, Taxis und Velos.

Die Einfahrt beim Murgareal ist überdeckt und so gut geschützt vor Schnee und Eis, zudem wird der Lärm gedämpft. Durch ihre schiere Grösse und die fensterlosen Seitenwände ist sie aber ein Massstabssprung zu den Wohnhäusern. Yves Schihin erklärt die gestalterische Strategie zur Einbindung dieses Elements folgendermassen: «Um die Betonmauer der Einfahrt weniger massiv erscheinen zu lassen, haben wir die Böschung so hoch heraufgezogen wie möglich und Bäume davor gepflanzt. Kletterpflanzen werden mit der Zeit die Wand bewachsen. »

Dass nicht nur die Hochbauten sorgfältig gestaltet und ausgeführt werden konnten, sondern alles bis hin zu eben diesen Übergängen in der Umgebung, schreibt Yves Schihin im Rückblick folgendem Umstand zu: «Wir haben das Projekt zusammen mit den Landschaftsarchitekten vom Entwurf über alle Phasen bis ganz zum Schluss begleiten dürfen. Dies war nicht selbstverständlich, besonders wenn man den langen Zeitraum bedenkt, der zwischen dem Wettbewerb im Jahr 2001 und dem Bezug im Herbst 2017 lag.»

Burkhalter Sumi Architekten

Von Marianne Burkhalter und Christian Sumi 1984 gegründet, wird Burkhalter Sumi Architekten seit 2010 durch Yves Schihin und Urs Rinklef als Partner ergänzt und geführt. Das Büro beschäftigt im Durchschnitt 20 Architekten, Praktikanten und Zeichner und bildet auch Lehrlinge aus. Seit den Anfängen durch Wettbewerbserfolge auch international bekannt, setzt sich das Werk von Burkhalter Sumi mit der innovativen, umsichtigen und zukunfts- gerichteten Gestaltung unseres Lebensraums auseinander. In ihrer Arbeit bringen sie Architektur, Kultur, Ästhetik und Nachhaltigkeit unter einen Hut. Neben den Kernthemen Wohnen und Städtebau wird die Arbeit am Bestand im Denken von Burkhalter Sumi immer wichtiger. Die «Recherche patiente» im Bauen mit Holz begleitet sie dabei auf Schritt und Tritt. Dass Architektur auch einen kulturellen Aspekt hat, zeigt das Interesse an interdisziplinärer Forschung, Ausstellungsarchitektur und Lehre. Zu den vielen Wettbewerbserfolgen gesellen sich zahlreiche aktuelle Auszeichnungen und Preise.

burkhalter-sumi.ch

Murgareal, Frauenfeld

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2018 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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