Wohnen, wo einst die Industrie blühte

Text
Daniela Meyer
Fotos
Damian Poffet

Vor rund fünfhundert Jahren lockte die Worble die ersten Schmieden an, die mit der Wasserkraft ihre Hämmer antrieben. Später entstand daraus ein renommierter Familienbetrieb, dem die 2022 fertiggestellte Wohnüberbauung Hammerwerk in Worblaufen ihren Namen verdankt. Der von Büro B Architekten geplante Neubau am Aareufer liegt in unmittelbarer Nähe der alten Fabrikhallen, die dem Ort einen einzigartigen Charakter verleihen. Drei riesige Hämmer haben bis heute überlebt – und könnten eines Tages wieder in Betrieb gehen.

«R. Müller» verkünden grosse goldene Lettern auf schwarzem Grund. Darunter weist ein Pfeil Richtung Hammerwerke. Das Schild hängt an der Fassade eines dreigeschossigen Häuschens am Schmiedeweg 5 in Worblaufen, das heute zur Gemeinde Ittigen gehört. Die altdeutsche Schrift verrät, dass es sich dabei um ein Relikt aus vergangenen Zeiten handelt. Wer dem Pfeil in die enge Rechtskurve folgt, wird die Häuserzeile entlang den Hang hinuntergeführt, wo die schmale Strasse in einen Platz mündet. Dort, am Ufer der Aare, treffen zwei unterschiedliche Epochen aufeinander und bilden eine eigene kleine Welt. An der östlichen Platzkante endet die kleinteilige, verschachtelte Bebauungsstruktur, die von der industriellen Vergangenheit des Areals erzählt. Gegenüber ragt ein sechsgeschossiger Neubau in die Höhe: die 2020 begonnene und 2022 fertiggestellte Wohnüberbauung Hammerwerk. Ein frei stehendes historisches Gebäude bildet den Abschluss zum Flussraum.

Der zentrale Platz, zu dem auch ein baumbestandener Spielbereich gehört, und die 77 Eigentumswohnungen sind aus einem 2014 ausgelobten Studienauftrag hervorgegangen, zu dem sechs Architekturbüros aus der Region eingeladen waren. «Dabei hat die Auseinandersetzung mit dem Ort und dem teilweise denkmalgeschützten Bestand eine wichtige Rolle gespielt», hebt Marcel-Jann Blattert von Halter Entwicklungen hervor, der das Projekt während der Realisierung begleitet hat. Im Gegensatz zu anderen Arealentwicklungen liegt die Wohnüberbauung in einem gewachsenen Umfeld, was ihr eine starke Identität verleiht. Eine weitere Besonderheit ist die Lage am Wasser. Die Parzelle reicht bis an den Uferweg, wo wenige Meter weiter die Aare dahinfliesst. Der Ausblick auf die grüne Uferzone und den Fluss macht die Wohnlage einzigartig. Gleichzeitig birgt die Situation aber auch Risiken – bei Hochwasser droht das Grundstück überflutet zu werden. Dass es sich dabei um kein realitätsfremdes Szenario handelt, zeigte sich gleich zu Beginn der Bauarbeiten, als die Aare über das Ufer trat und die noch offene Tiefgarage überschwemmte.

Der Ausblick auf den grünen Flussraum und die Aare macht die Wohnungen einzigartig. Die Loggien sind mit Feinsteinzeug-Platten belegt, die mit anthrazitfarbenem Eisenglimmer pulverbeschichteten Metallgeländer scheinen markant und doch transparent genug.
Blick in eine der Wohnungen, die über einen ineinander übergehenden Wohn- und Essbereich mit offener Küche verfügt.
Die vier Maisonettewohnungen im Sockelbereich profitieren von vorgelagerten Terrassen, die mit Sonnensegeln geschützt sind. Hier befinden sich auch die direkten Wohnungszugänge.

Als wolle die Überbauung dem Fluss Respekt zollen, weicht sie davon zurück und sucht die Nähe zum nordseitigen Steilhang. Das Team um Michael Schmid von Büro B Architekten schlug einen zusammenhängenden Gebäudekörper vor, der parallel zur Aare verläuft und sich leicht vom Terrain abhebt. Damit konnte es den Studienauftrag für sich entscheiden. «Die einfache Bebauungsstruktur besteht aus fünf Turmhäusern, die über einen zweigeschossigen Sockelbau miteinander verbunden sind», erklärt der Architekt. «So gewährleistet die Siedlung eine visuelle Durchlässigkeit zwischen dem Flussraum auf der einen und dem Hang auf der anderen Seite.» Jeder Gebäudeteil verfügt über einen attraktiven, südseitigen Zugang und ist über den vorgelagerten Gehweg erreichbar. Die um ein paar Stufen vom Terrain abgehobene Esplanade schützt den Wohnbau vor einem 300-Jahr-Hochwasser. Gleichzeitig wird sie zu einer halbprivaten Flaniermeile, wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner im Alltag begegnen.

Kunstvoller Ausblick

Wer eine der vier Maisonettewohnungen in der Sockelzone besitzt, betritt diese über die angrenzende Terrasse. In den zweigeschossigen Wohnungen mit direktem Kellerzugang lebt es sich fast wie im Einfamilienhaus. Die übrigen 73 Wohnungen verteilen sich auf die fünf Haupthäuser und bieten einen vielfältigen Mix, der vom Studio mit 35 Quadratmetern bis zur 153 Quadratmeter grossen 5,5-Zimmer-Wohnung reicht. Viele Einheiten zeichnen sich durch einen Wohnbereich mit angrenzender Loggia aus, von wo man auf die Aare und den bewaldeten Hang am gegenüberliegenden Ufer blickt. Dieses Panorama verleiht den Wohnungen eine einmalige Atmosphäre. Davon sei er stets aufs Neue fasziniert, schwärmt ein Bewohner: «Mit jeder Jahreszeit ändern sich die Farben und die Stimmung – fast so, als würde ich aus meinem Wohnzimmer ein Bild von Franz Gertsch betrachten.» Ein paar wenigen Bewohnerinnen und Bewohnern, deren Wohnungen sich zum Hang orientieren, bleibt diese Aussicht verwehrt. Doch direkt vor ihrer Haustür dehnt sich eine grosse Wiese aus, die dazu einlädt, Liegestühle, Badetücher oder Picknickdecken auszubreiten und den Blick auf den Flussraum aus dieser Perspektive zu geniessen. Besonders im Sommer, wenn auf und neben der Aare reger Betrieb herrscht, färbt das urbane Flair der nahen Stadt auf die Umgebung der Hammerwerke ab und verdeutlicht deren attraktive Lage: mitten im Grünen und doch nur eine Flussbreite von Bern entfernt.

Die Wohnungen im zweiten Obergeschoss verfügen nebst der Loggia in der Gebäudeecke über eine grosse, seitlich angelagerte Terrasse.
Der Innenausbau basiert auf drei Designlinien und konnte von den Eigentümern mittels Onlinekonfigurator visualisiert werden.
Je nach Perspektive erscheinen die fünf Haupthäuser der 2022 fertiggestellten Wohnüberbauung Hammerwerk wie regelmässig aneinandergereihte Einzelbauten.

Ein Stück Industriegeschichte

Ein Naherholungsgebiet an der Stelle, wo die Worble in die Aare fliesst? Das konnte sich vor fünfhundert Jahren wohl kaum jemand ausmalen. Aus dieser Zeit stammt der heutige Name der Wohnüberbauung und erinnert an eine lebhafte industrielle Vergangenheit: Genau lässt sich das Entstehungsdatum der ersten «Hammerschmiede zu Worblaufen» nicht mehr eruieren; gewiss ist jedoch, dass dort spätestens seit dem frühen 16. Jahrhundert ein Hammerschmied tätig war.1 Der Bach, der den Schmiedeweg entlang in die Aare runterfliesst, lieferte damals die Wasserkraft für den Antrieb der Hämmer, mit denen die Schmiede das Eisen bearbeiteten. Anfänglich produzierten sie Flachstahl für Wagenräder, Pflugscharen, Sensen und schon bald die ersten Waffen. Im 19.Jahrhundert, als in der Stadt Bern eine rege Bautätigkeit einsetzte und gleichzeitig mit dem Bau des Eisenbahnnetzes begonnen wurde, lieferten sie Werkzeuge zur Bearbeitung des Sandsteins sowie für den Schienenbau. Nicht zuletzt profitierte der Betrieb an der Worble auch von der Produktion verschiedener Waffenbestandteile während der beiden Weltkriege.

Seit 1844 waren die Hammerwerke im Besitz der Familie Müller, die sie stets an die nächste Generation weitergab – bis im Jahr 2014, als ihre Maschinen verstummten. Marcel-Jann Blattert weist darauf hin, dass der Erwerb dieser Liegenschaft kein alltäglicher Vorgang war: «Halter kaufte nicht bloss ein Grundstück, sondern die Firma R. Müller respektive deren gesamtes Aktienpaket.» So wurde die Halter AG kurzzeitig zum Besitzer einer geschichtsträchtigen Hammerschmiede. Inzwischen hat der Immobilienentwickler den Bestand aus der damaligen Zeit weiterverkauft. Das Areal prägen die Bauten aus der 170-jährigen Ära Müller aber weiterhin. Davon zeugt nicht nur das Schild, das an der Fassade des 1871 weitgehend erneuerten Wohnhauses hängt und den Weg zu den Hammerwerken weist. Auch an anderen Stellen ist die Atmosphäre von damals noch spürbar. Tritt man aus einem der Hauseingänge des Neubaus und blickt Richtung Osten, zeigt sich ein Bild, das bereits seit 1944 existiert: im Hintergrund ein ehemaliges Fabrikgebäude, das den Abschluss zum Platz bildet; rechter Hand das zweigeschossige Haus, das inzwischen renoviert wurde, dessen Äusseres sich dadurch aber kaum verändert hat. Dabei handelt es sich um das vor rund achtzig Jahren erstellte Werkstatt- und Bürogebäude. Nach der Renovation bietet es im Obergeschoss Platz für zeitgemässe Büros und Ateliers, im Erdgeschoss befindet sich die Werkstatt von Linck Keramik. Dieses Haus, das inzwischen in Privatbesitz ist, nimmt eine Vermittlerrolle ein am Platz, wo der Wohnungsneubau und die alten Fabrikhallen einander gegenüberstehen.

Raum für eine Handwerkstradition sichern

Ein grosses Tor führt in das Fabrikgebäude und gibt Einlass in eine Welt, wo die Vergangenheit auflebt. In der Halle riecht es nach Maschinenöl, die Wände sind russgeschwärzt, die Beleuchtung ist spärlich. Mehrere Schmiede und Metallbauer haben hier ihre Werkstätten eingerichtet. Durch das verschachtelte Innenleben der Halle gerät man immer tiefer in den Sog der Geschichte. Ganz hinten, wo die Halle an den kanalisierten Bach grenzt, da stehen sie: drei riesige, wasserbetriebene Schwanzhämmer aus der Anfangszeit der Hammerwerke. An der Wand hängen ebenso grosse Schmiedezangen und andere Werkzeuge. Eine Reifenbiegemaschine, mit der damals der Flachstahl für die Wagenräder gebogen wurde, steht ebenfalls im Raum. Nicht nur der Kunstschmied, der hier sein Atelier eingerichtet hat, zeigt sich begeistert von diesen historischen Gerätschaften. Auch die Equimo AG, ein Tochterunternehmen der Basler Stiftung Edith Maryon, die inzwischen im Besitz der denkmalgeschützten Räumlichkeiten ist, möchte diese Relikte erhalten. In erster Linie hat sie mit dem Kauf der Liegenschaft aber bewirkt, dass das traditionelle Handwerk des Schmiedens an der Worble fortgesetzt werden kann.

Vielleicht wird die Berner Stadtbevölkerung bald nicht mehr bloss in Gummibooten an den grosszügigen Loggien und Terrassen der neuen Wohnüberbauung Hammerwerk vorübergleiten, sondern auch ihrem historischen Nachbarn einen Besuch abstatten, um mehr über die einmalige Geschichte dieses Ortes zu erfahren.

1 100 Jahre Hammerwerke Müller / Worblaufen 1844–1944, Jubiläumsschrift vom 20. April 1944.

Situationsplan: links die neue Wohnüberbauung, die vom Aareufer zurückweicht; rechts die ineinander verzahnten Industriehallen und die historische Bebauung.
Ansicht von Süden: Über dem zweigeschossigen Sockel löst sich die Überbauung in fünf Turmhäuser auf, was ihr eine visuelle Durchlässigkeit verleiht.
Grundriss 2. Obergeschoss: Die fünf Haupthäuser basieren auf einer ähnlichen, sechseckigen Grundform. Ihr Innenleben bringt unterschiedliche Wohnungen hervor.
Querschnitt durch die Sockelzone: In den zweigeschossigen Wohnungen mit direktem Kellerzugang lebt es sich fast wie in einem Einfamilienhaus.
Ansicht von Westen: links der Wohnungsneubau, rechts das ehemalige, inzwischen renovierte Werkstatt- und Bürogebäude, im Hintergrund die alte Produktionshalle.

Büro B Architekten AG

Das erstprämierte Projekt beim Ideenwettbewerb für das Selve-Areal in Thun führte 1990 zur Gründung der Büro B Architekten. Aus der anfänglich lockeren Arbeitsgemeinschaft wurde mit dem Gewinn weiterer Wettbewerbe schon bald eine feste Bürostruktur. Heute führen 6 Geschäftsleitungsmitglieder das Büro, das insgesamt rund 35 Mitarbeitende beschäftigt. Sie bearbeiten ein breites Aufgabenspektrum, wozu aktuell mehrere Schulbauten sowie ein Wohn- und Pflegeheim zählen. Im Grossraum Bern hat das Büro eine Vielzahl von Projekten realisiert, darunter verschiedene Wohn- und Verwaltungsbauten wie die Wohnüberbauung für die Migros im Breitenrain (2019) oder den Hauptsitz der Postfinance (2012). → www.buero-b.ch

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2023 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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