Wo Konzeption und Realisierung ineinanderfliessen

Visualisierungen
Anliker AG

Wenn das Klimaziel Netto-Null auch im Bereich des Bauwesens erreicht werden soll, bedarf es neuer Planungsstrategien. Beim Wettbewerb zum Lagerhaus auf dem Attisholz-Areal setzte man auf ein innovatives Werkgruppenverfahren, um ökologische, ökonomische und ästhetische Herausforderungen zu bewältigen.

Angesichts der Forderung des Weltklimarats, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, beschloss der Schweizer Bundesrat im August 2019, bis 2050 eine ausgeglichene Klimabilanz anzustreben. Dieses Netto-Null-Ziel bedeutet, dass nicht mehr Treibhausgase freigesetzt werden dürfen, als durch natürliche oder künstliche Speicher aufgenommen werden können. Das Klima- und Innovationsgesetz, das eine Roadmap für die Erreichung dieses Ziels umfasst, wurde im Juni 2023 von der Bevölkerung angenommen und tritt zum 1. Januar 2025 in Kraft.

Das Netto-Null-Ziel zwingt viele Wirtschaftsbereiche zum Umdenken und Umlenken – vor allem in den Sektoren Verkehr, Industrie und Bauwesen. 45 Prozent des Schweizer Energieverbrauchs und ein Viertel der hierzulande emittierten Treibhausgase verursacht der aktuelle Gebäudebestand. Dabei verteilt sich der CO₂-Ausstoss je zur Hälfte auf die immer noch vorhandenen Öl- und Gasheizungen und auf die graue Energie, die bei der Erstellung von Gebäuden anfällt. Moderne Heizsysteme auf Basis erneuerbaren Energien sind nur ein Hebel, um die Emissionen zu reduzieren. Genauso wichtig sind Strategien, um die graue Energie und die grauen Emissionen zu minimieren. Das bedeutet, wenn immer möglich Abrisse zu verhindern, Bestandsgebäude umzunutzen und Ressourcen zu schonen. Das bedeutet, nachhaltige Baumaterialien zu verwenden. Und es bedeutet, die Kreislaufwirtschaft auch im Bereich des Bauens durchzusetzen – also möglichst viele Bauteile wiederzuverwenden und Baustoffe zu recyceln.

Langfristige Entwicklungsplanung

Das Gelände der früheren Cellulosefabrik Attisholz, vier Kilometer aareabwärts von Solothurn gelegen, ist eines der grössten Transformationsareale der Schweiz. 2016 erwarb die Halter AG das Areal und entschied sich für eine langfristige Entwicklungsplanung, deren Zeithorizont als Vision 2045 bis zur Mitte dieses Jahrhunderts reicht. Aus gutem Grund, denn eine derartige Strategie erlaubt es, auf sich zwangsläufig verändernde Bedürfnisse zu reagieren und Spielräume zu schaffen, die erst in Zukunft genutzt werden.

2021 genehmigte der Kanton Solothurn die Nutzungsplanung, anschliessend wurde ein Studienauftrag für die Freiraumplanung ausgeschrieben, den die Wiener Arbeitsgemeinschaft aus DnD Landschaftsplanung und FSA Architektur für sich entscheiden konnte. Auch hier: kein konsistenter, alles fixierender Gesamtplan, sondern vielmehr eine städtebauliche und landschaftsplanerische Grundlage für die kommenden Schritte – mit dem Ziel, die Charakteristika des Areals zu identifizieren, zu erhalten und zu stärken. Es folgte eine erste architektonische Konkurrenz für das Kochereigebäude – ein klassisches, einstufiges und dialogisches Verfahren, das das Architekturbüro Burckhardt & Partner Ende 2022 gewann. Im vergangenen Jahr ist der nächste Schritt erfolgt, der Wettbewerb für das historische Lagerhaus, das den Auftakt zum Areal bildet.

Situation: Das ehemalige Lagerhaus steht an exponierter Stelle am Aareufer und bildet den südöstlichen Auftakt des Attisholz-Areals.
Ansicht Nord: Gemäss den Vorstellungen von Blumer Lehmann erheben sich über einem Zwischengeschoss, das Alt-und Neubau verbindet, ein zehngeschossiger und zwei viergeschossige Aufbauten.
Ansicht Ost: Der Beitrag von Blumer Lehmann wurde durch Stücheli Architekten gestalterisch ausgearbeitet.

Design-Build im Werkgruppenwettbewerb

Bei diesem Vorhaben setzte man auf ein neuartiges Wettbewerbsverfahren, den Werkgruppenwettbewerb. Das gesellschaftliche Netto-Null-Ziel lässt sich im Bereich des Bauwesens nur erreichen, wenn Fragen der Materialisierung und der Kreislaufwirtschaft hohe Priorität besitzen. Das übliche sechsstufige Phasenmodell des SIA ist dafür allerdings laut Maik Neuhaus, CEO der Halter AG, kaum geeignet: Am Anfang steht der architektonische Entwurf, und erst später wird über Vergabe und Ausführung entschieden. Die Alternative stellt ein integriertes Design-Build-Modell dar: Ausführende Unternehmen werden schon in der Planungsphase einbezogen, sodass Konzeption und Realisierung nicht wie gewohnt einen Bruch darstellen, sondern ineinanderfliessen. Alle wesentlichen Beteiligten sitzen bereits zu Beginn eines Projekts mit am Tisch, die Digitalisierung erlaubt es, die Ergebnisse zu einem frühen Zeitpunkt zu simulieren, und die praktischen Ziele eines nachhaltigen Bauens können von Anfang an berücksichtigt werden. Das spart nicht nur Zeit, weil das Projekt nicht zunächst geplant und dann erst ausgeschrieben wird, sondern ist auch für die verschiedenen Beteiligten von Vorteil, wie Ivo Schmidt, Projektleiter Entwicklung und Akquisition bei Halter Gesamtleistungen, festhält:

Der Werkgruppenwettbewerb ist für Unternehmer interessant, da sie sich durch innovative Ideen differenzieren können, ohne sich in einem reinen Preiskampf wiederzufinden, der auf vorgegebenen Detailplänen basiert. Für Bauherren ermöglicht das Verfahren eine faktenbasierte Auswahl der besten Konzepte für ihr Bauvorhaben.
Ivo Schmidt

Gebäudehülle und Fassade

Das Projekt Lagerhaus umfasst mehrere Bestandteile mit dem Ziel, in Zukunft auf dem Attisholz-Areal hochwertige und nachhaltige Eigentumswohnungen und Dienstleistungsflächen anzubieten: die Sanierung des Lagerhauses, die Ergänzung durch einen daran anschliessenden Ersatzneubau, ein verbindendes Zwischengeschoss für Alt- und Neubau sowie drei darauf zu platzierende Hochbauten.

Werkgruppenwettbewerbe können in unterschiedlicher Konstellation umgesetzt werden. In diesem Fall wurden Gebäudehülle und Tragwerk separat ausgeschrieben und von der Jury auch separat beurteilt. Das Projekt der Gebäudehülle von Blumer Lehmann, das architektonisch von Stücheli Architekten ausgearbeitet wurde, überzeugte die Jury durch seine ruhige Haltung und eine gelungene städtebauliche Einfügung in das Attisholz-Ensemble. Das Tragwerkskonzept von Blumer Lehmann setzt auf einen hohen Anteil an Holz bei den Aufstockungen. Das wurde von der Jury grundsätzlich begrüsst, doch ergaben sich Probleme hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit: Die Kosten lagen deutlich über den von Halter errechneten Zielvorgaben.

Daher verglich man das Tragwerk in einem zweiten Schritt mit dem Projekt der Anliker AG, die auf die Ausarbeitung einer Gebäudehülle verzichtet, aber zwei Tragwerksvarianten vorgestellt hatte, und zwar eine hölzerne mit Decken und Wänden aus Brettsperrholz und eine massive mit zwanzig Zentimetern starken Flachdecken sowie präfabrizierten Stützen aus zu einem hohen Mass aus Recyclingmaterialien bestehendem Stahlbeton. Auch wenn die CO₂-Emissionen bei der Holzlösung etwas niedriger zu veranschlagen sind, zeigte sich, dass die konventionelle, aber auf ein Minimum an Material reduzierte Lösung in mehrfacher Hinsicht punkten konnte: bei der Primärenergie, bei den bauphysikalischen Eigenschaften (Schallschutz, Wärmespeicherung), bei der Grundrissflexibilität und schliesslich bei den Kosten für die Erstellung.

Wo Halter als Gesamtleister auftrete, setze man zukünftig verstärkt auf Werkgruppenverfahren, so Maik Neuhaus. Viele Besteller im Markt hätten aktuell noch Vorbehalte, und auch manche Architekten zeigten sich skeptisch, weil es deren Selbstverständnis als genuine Entwerfer infrage stelle. Funktionieren kann der Werkgruppenwettbewerb nur dann, wenn sich alle Beteiligten als gleichberechtigte Teamplayer verstehen.

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2024 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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