Wo bleibt die Stadtplanung?

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Bundesamt für Statistik

Nach Jahrzehnten der Zersiedelung muss das Raumkonzept der Schweiz neu gedacht werden. Das Manifest «Urbanistica – Vereinigung für guten Städtebau» will die öffentliche Diskussion anregen.

Gemäss dem Bundesamt für Statistik lebten 2012 in der Schweiz von 8 Millionen Menschen 6,7 Millionen respektive 84 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung in einer Gemeinde mit städtischem Charakter. 1506 respektive 64 Prozent aller Gemeinden waren städtischen Charakters und bedeckten eine Fläche von 41 Prozent der Schweiz.

Mit Inkrafttreten des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes 2014 und seinem zentralen Gebot der inneren Siedlungsentwicklung müssten zwei Drittel aller Gemeinden nicht Orts-, sondern Stadtplanung betreiben. Doch die Mehrzahl scheut sich, den Begriff zu verwenden, geschweige denn, Stadtplanung zu betreiben.

Stadtplanung ist Planung in urbanen Räumen, über Gemeinde-, Kantons- und mitunter Landesgrenzen hinaus. Ihr Horizont überspannt weit mehr als eine BZO-Revision von fünfzehn Jahren. Sie ist die absolut wichtigste Aufgabe einer Gemeindebehörde. Mit Stadtplanung wird die Entwicklung der Gemeinde gesteuert, sei es in Bezug auf Wohnraumangebot, Arbeitsplätze, soziografische Durchmischung oder Finanzkraft. Insbesondere ist die Stadtplanung massgeblich für das Bild, die Identität und die Lebensqualität einer Gemeinde.

Woran liegt es, dass sich die Schweiz schwer damit tut? Nachfolgend ein paar Gedanken dazu im Verhältnis zu diversen Aspekten, (vermeintlichen) Hindernissen und Herausforderungen.

Das Bundesamt für Statistik (BFS) erhob im Jahr 2012 den «Raum mit städtischem Charakter» in der Schweiz, im gleichnamigen Erläuterungsbericht 2014 publiziert.
«Bevölkerung, Beschäftigte und Fläche nach Gemeindekategorien» der Jahre 2011/12 in der Schweiz, vom Bundesamt für Statistik (BFS) im Erläuterungsbericht «Raum mit städtischem Charakter» 2014 publiziert.

Von Architektur bis Kapitalismus

Stadtplanung und Architektur: Die Schweiz verfügt weltweit über die höchste Dichte ausgezeichneter Architekten. Die durchschnittliche Qualität ist überragend. Trotzdem wird das Lied mangelnder Baukultur immer lauter. Der Refrain besingt die wohlfeile Klage über unwillige Bauherren und gewinnsüchtige Spekulanten. Wohl gibt es die. Doch selbst wenn alle Häuser von höchster Qualität wären, sähen unsere Städte und Agglomerationen nicht viel anders aus. Die Aneinanderreihung autistischer, verrenkter Gebäude ist die Folge fehlender Stadtplanung und uniformer Bauzonen mit generell-abstrakten Regeln. Auch die beste Architektur ist nicht in der Lage, attraktive, funktionale öffentliche Räume zu schaffen. Dies wäre Aufgabe der Stadtplanung. Sie zu definieren, zu sichern und umzusetzen, läge in der Hoheit und der Verantwortung der Gemeinden. Gut geplante öffentliche Räume schaffen Strukturen, die auch mittelmässige Architektur ertragen.

Stadtplanung und Demokratie: Viele Planungsvorlagen haben es schwer vor dem Souverän, werden mit Rechtsmitteln verzögert oder gar verhindert. Dennoch ist die direkte Demokratie die am wenigsten schlechte aller Staatsformen. Ihre Unmittelbarkeit vor allem auf Gemeindeebene ist die wirkungsvollste Form der Partizipation in Planungsfragen. Leider wird keine öffentliche Diskussion über Stadtplanung geführt. Die Vorlagen beinhalten entweder zweidimensionale, abstrakte Richtpläne, für den Bürger schwer fassbare Bau- und Zonenordnungen oder einzelne, meist von privaten Interessen getriebene Sondernutzungsplanungen. Notwendig wäre ein strukturiertes Vorgehen für eine stufenweise öffentliche Diskussion und Mitwirkung bezüglich der langfristigen Entwicklung einer Gemeinde und ihrer Region. Dieses sollte über städtebauliche Leitbilder, Konkurrenzverfahren und Masterplanungen zur Richtplanung führen und deren Umsetzung in eine grundeigentümerverbindliche Nutzungsplanung.

Stadtplanung und Föderalismus: Urbane Räume erstrecken sich über administrative Grenzen hinaus. Das Ordnungsraster sind funktionale Räume, die sich aus Topografie, Verkehrs- und Versorgungsstrukturen sowie vorhandenen raumplanerischen Morphologien ergeben. Stadtplanung setzt nicht zwangsläufig Eingemeindungen oder Gemeindefusionen voraus.

Sinnvoll wäre aber, Planungsregionen zu schaffen, die sich an polyzentrischen Stadtstrukturen orientieren und in funktionalen Perimetern gesamtheitliche Stadt- und Quartierplanungen verfolgen.
Balz Halter

Stadtplanung und Verkehr: Verkehr ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit. Nicht nur wegen Stau und Lärm, sondern auch aufgrund der mit ihm verbundenen Emissionen und seines unersättlichen Hungers nach leistungsfähigeren Infrastrukturen. Stadtplanung hilft, strategisch und relevant zu verdichten, an Orten, die bereits gut erschlossen sind, und Zentren zu schaffen, die dank ihrer Intensität attraktive und vielfältige Angebote entstehen lassen. An peripheren Lagen kann auf Ausnützungserhöhung verzichtet und damit zusätzlicher Pendlerverkehr vermieden werden.

Stadtplanung und Landschaftsschutz: Stadtplanung in urbanen Räumen schärft Konturen zur Landschaft und reduziert den Druck auf sie. Durch städtische Verdichtung wird genügend Potenzial für aktuellen und zukünftigen Raumbedarf geschaffen. Urbane Freiräume wie Boulevards, Uferpromenaden, Parks, Allmenden und deren Vernetzung bieten dem Stadtbewohner in nächster Nähe Raum für Freizeit und Erholung. Zudem verbessern sie das Stadtklima.

Stadtplanung und Heimatschutz: Bestehende Bauten repräsentieren die Geschichte ihres Ortes und stiften Identität. Sie zu beseitigen, soll wohlüberlegt sein, auch aus Gründen der grauen Energie und der CO₂-Effizienz. Die Stadtplanung zwingt zur umfassenden Güterabwägung und zur öffentlichen Diskussion, welche Strukturen erhaltenswert, welche Gebäude zu schützen sind und wo Neues zu schaffen ist. Im stufenweisen Vorgehen der Planung können und müssen Verträglichkeiten mit vorhandenen Inventaren und Registern, beispielsweise dem Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder (ISOS), überprüft sowie einspracheberechtigte Interessenverbände einbezogen werden. Auf diese Weise werden notwendige Güterabwägungen stufengerecht vorgenommen. Im Sinne des Entscheidfolgeprinzips muss die Legitimation für Rechtsmittel von bestimmten Interessengruppen in nachfolgenden Verfahrensschritten als verwirkt gelten.

Stadtplanung und Kapitalismus: Grundlage des Kapitalismus ist die Marktwirtschaft auf der Basis der Eigentumsgarantie sowie der Handels- und Gewerbefreiheit. In der sich verschärfenden Diskussion einer sich abzeichnenden Wohnungsnot wird der Ruf nach einer Bodenrechtsreform mit Verstaatlichungen laut. Einfacher und wirkungsvoller wären konsequente Stadtplanungen, die über relevante Aufzonungen an zentralen Orten genügend Ausnützungsreserven schaffen. Auf diese Weise könnte die grosse Nachfrage insbesondere in wirtschaftlichen Zentren befriedigt werden, was sich dämpfend auf die Wohnkosten auswirkte. Wo sich aufgrund eines stufenweisen Stadtplanungsprozesses langfristig bedeutende Mehrnutzungen abzeichnen, steigen die Werte der Bauparzellen entsprechend. Dies führt zu erhöhter Verkaufsbereitschaft und erfahrungsgemäss zur städtebaulich erwünschten Konsolidierung in fragmentierten Eigentümerstrukturen. Für die Gemeinde resultieren erhebliche Einnahmen aus Mehrwertabgaben und Steuern auf Grundstücksgewinnen, die sie befähigen, die notwendigen Investitionen im öffentlichen Raum und in Infrastrukturen zu finanzieren.

Um Stadtplanung wieder zur öffentlichen Diskussion zu bringen und in der Schweiz zu reaktivieren, hat sich der Autor bei der Gründung von «Urbanistica – Vereinigung für guten Städtebau» und der Ausarbeitung ihres Manifests für Stadtplanung engagiert.

→ urbanistica.ch

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2024 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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