«Wir brauchen wieder mehr Pioniergeist und Mut»
Über städtebauliche und planerische Herausforderungen, die Beteiligung der Bevölkerung und die Folgen des demografischen Wandels in der Schweiz – eine Gemeindepräsidentin und zwei Gemeindepräsidenten diskutieren am runden Tisch mit Blick auf die Berner Agglomeration.
Ostermundigen an einem Morgen Ende Januar. In der Nacht ist unverhofft Schnee gefallen. Im Restaurant Uma im BäreTower vor den Toren Berns und gleich neben Ittigen lädt Komplex zur Gesprächsrunde ein. Aus Oberdorf im Kanton Nidwalden ist die Gemeindepräsidentin Judith Odermatt-Fallegger angereist, für Marco Rupp, Gemeindepräsident von Ittigen, und für Thomas Iten, Gemeindepräsident von Ostermundigen, ist es sozusagen ein Heimspiel.
Komplex: Ihre Gemeinden sind durchaus unterschiedlich, das zeigt sich vorderhand an statistischen Angaben: Das innerschweizerische Oberdorf hat die grösste Fläche mit 16,2 Quadratkilometern, aber nur gut 3000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Fläche von Ittigen im Kanton Bern beträgt 4,2 Quadratkilometer, die Bevölkerungsanzahl ist 11 000, und das benachbarte Ostermundigen weist bei 6 Quadratkilometern 18 000 Personen an Wohnbevölkerung auf. Wie würden Sie Ihre Gemeinden jenseits dieser numerischen Daten charakterisieren?
JOF: Oberdorf liegt im Engelbergertal an der Seite von Stans, dem Hauptort von Nidwalden, und besteht aus drei Ortsteilen. Verschiedene lokale Unternehmen sind innovativ und international ausgerichtet, die Einwohnerschaft hingegen versteht sich eher als traditionell. Im Gegensatz zu den beiden anderen Gemeinden, die hier am Tisch vertreten werden, ist Oberdorf ländlich geprägt.
MR: Ittigen ist eine typische Agglomerationsgemeinde, die – wie Ostermundigen – erst 1983 durch die Trennung von Bolligen Selbstständigkeit erlangt hat. Wir hatten ein starkes Bevölkerungswachstum in den 1960er- bis 1990er-Jahren, seither stagniert die Zahl. Für die kommenden zehn Jahre rechnen wir mit einem Wachstum von 10 Prozent, wofür bereits Bauprojekte genehmigt sind. Nach 2010 massiv gestiegen ist jedoch die Zahl der Arbeitsplätze, die die der Bevölkerung inzwischen übersteigt.
TI: Auch bei Ostermundigen handelt es sich um eine typische Agglomerationsgemeinde mit einer Entwicklung ähnlich der von Ittigen. Um 2005 waren wir auf unter 15 000 Einwohnerinnen und Einwohner geschrumpft, haben aber in den letzten fünfzehn Jahren ein starkes Wachstum erlebt. Die Bevölkerungszahl hat die Marke von 18 000 inzwischen gesprengt. Wir gehen davon aus, dass die Wohnbevölkerung in den kommenden Jahren noch um bis zu 1500 Personen steigen wird. Der BäreTower, in dem wir sitzen, verkörpert gewissermassen diese Transformation. Mit der Revision der Ortsplanung haben wir das Potenzial, uns weiter zu verändern.
Komplex: Wir treffen uns hier, um über das von Balz Halter und Vittorio Magnago Lampugnani erarbeitete und im vergangenen Jahr veröffentlichte Manifest «Urbanistica» und seine Bedeutung für die Raumplanung, den Städtebau sowie die Gemeindeentwicklung in der Schweiz zu sprechen. Dessen Grundthese besteht darin, dass die Schweiz sich weithin ländlich wahrnimmt, obwohl im Grossteil des Landes städtische Verhältnisse herrschen. Das führt zu einem Auseinanderdriften von Lebenswirklichkeit und Mindset. Eine weitere These ist: Es gibt in der Schweiz vorbildliche Architektur, aber zumeist nur Solitäre. Was fehlt, ist das Dazwischen. Es mangelt an öffentlichen Plätzen und Räumen, an Zusammenhang zwischen den einzelnen Bauten. Darum verstehen sich die Verfasser des Manifests auch als «Vereinigung für guten Städtebau ». Stadtplanung ist eine zentrale Aufgabe der öffentlichen Hand, heisst es in der letzten der acht Thesen. Sie gehören zu den politischen Entscheidungsträgern, stimmen Sie den Thesen zu?
TI: Ich glaube, man kann den Thesen nicht einfach zustimmen – und auch nicht dagegen sein. Wir in Ostermundigen verstehen uns als Scharnier zwischen städtischen und dörflichen Gemeinden. Unser Zukunftsbild lässt sich in einem Slogan zusammenfassen: Mehr Stadt erfordert mehr Dorf, und mehr Dorf erfordert mehr Stadt. Das mag als Widerspruch erscheinen, aber das Bild gilt eben auch für die echten Städte der Schweiz. Wir sprechen dort von der Zehn-Minuten-Stadt, und die ist nichts anderes als ein Dorf im grösseren Massstab. Die Diskrepanz zwischen städtischen und ländlichen Räumen besteht in den Köpfen der Menschen, aber die Realität in den Lebensräumen ist eine andere.
JOF: Ich teile diese Ansicht. Oberdorf hat den Vorteil, in der Nähe der Autobahn zu liegen. Dadurch sind wir schnell in Luzern, und die Luzerner sind schnell bei uns. Man möchte die Städte leicht erreichen und von den vielfältigen Angeboten profitieren, aber in der Privatsphäre bevorzugt man die Ruhe und die Nähe zur Natur. Dies hängt auch vom Alter ab. Wir beobachten, dass ältere Menschen tendenziell in Richtung Stans, dem Hauptort von Nidwalden, ziehen, da dieser auch in Bezug auf den öffentlichen Verkehr besser erschlossen ist.
MR: Aus meiner Sicht sind die Thesen richtig, aber man muss sie auch richtig lesen können im Licht der gesamten Entwicklung. Um 2000 war Ittigen eine Schlafgemeinde. Nun ist Ittigen stark gewachsen, wir haben viel mehr Arbeitsplätze, aber noch kein lebendiges Zentrum. Daran müssen wir arbeiten, und wir versuchen, die Bevölkerung mit unserem räumlichen Entwicklungskonzept mitzunehmen. Ein Paradigmenwechsel ist ganz klar das Raumplanungsgesetz 2014, das besagt, dass die Entwicklung primär gegen innen erfolgen soll. Haushälterische Bodennutzung ist das Gebot der Stunde, sie ist aber auch eine Herausforderung, weil Grünflächen unter Druck geraten. Eine gute Verdichtung muss die Fehler der 1960er- und 1970er-Jahre korrigieren; wir wollen nicht den Boden zupflastern, sondern die Standortqualitäten so nutzen, dass das Lebensumfeld zugleich neu gestaltet und verbessert wird. 2008 hatten wir eine denkwürdige Gemeindeversammlung über die Ortsplanung. Die Bevölkerung lehnte es ab, neue Areale einzuzonen und drängte darauf, im Bestand weiterzuarbeiten. Das hat uns die Chance gegeben, die Siedlungsentwicklung nach innen zu forcieren. Hier kommen die Thesen von «Urbanistica» ins Spiel. Die Voraussetzungen dafür, dass wir uns entwickeln können, sind nicht allein gute Gebäude, es ist auch der gute Städtebau: am richtigen Ort das Richtige zu bauen.
JOF: Bei uns ist es so, dass wir seit Jahren nicht mehr wachsen können, die Baulandressourcen sind erschöpft. Wir haben sehr viele Einfamilienhäuser, die von älteren Menschen bewohnt werden. Weil diese keine Wohnungen in ähnlicher Preislage finden, mangelt es an Wohnraum für junge Familien. Wo aber Verdichtung möglich ist, führt dies häufig zu Konflikten. Die Einsprachen haben zugenommen, gesamtschweizerisch. Ich bin seit 2014 Gemeindepräsidentin von Oberdorf, und noch nie hatten wir so viele Einsprachen wie im letzten Jahr. Früher hatte man mehr Flächen und konnte grosszügiger bauen, das macht einem die Gesetzgebung heute nicht leicht. Und günstig bauen bei den heutigen Auflagen ist ebenfalls eine grosse Herausforderung.
TI: In der Regel verantworten die Gemeindepräsidien die Planung, das ist die Königsdisziplin in jeder Gemeinde. Unsere räumliche Entwicklungsstrategie hat sechs Leitsätze. Der erste lautet: Verdichtung als Chance betrachten. In der jetzigen Phase unserer Ortsplanungsrevision geht es nicht nur um die Gebäude selbst, sondern gerade auch um Begegnungsräume. Wir müssen zudem Antworten haben auf die verschiedenen demografischen Veränderungen. Mehrere Bauherrschaften bauen bei uns Wohnungen speziell für die ältere Bevölkerung, damit ein Generationenwechsel stattfinden kann. Voraussichtlich in diesem Quartal werden wir das Leitbild Gesellschaft vorstellen – es geht nicht um das Bauen an sich, sondern um die Menschen. Wir wollen Lebensräume in unserer Gemeinde schaffen, wir wollen, dass sich die Menschen beispielsweise in den Vereinen engagieren, wir wollen, dass sie hier Arbeit finden.
Judith Odermatt-Fallegger
wuchs in Alpnach und Stansstad auf, absolvierte eine Lehre im Detailhandel und war im Modebereich tätig – als Filialleiterin, Ausbilderin und Prüfungsexpertin. Lange Zeit in verschiedenen Vereinen aktiv, wechselte sie nach einer beruflichen Pause in die Politik, wo die FDP ihre politische Heimat wurde. Sie amtierte 2012 bis 2014 als Gemeinderätin in der Milizgemeinde Oberdorf im Kanton Nidwalden und ist dort seit 2014 Gemeindepräsidentin. Seit 2022 ist sie darüber hinaus Landrätin und Präsidentin der Gemeindepräsidentenkonferenz Nidwalden. → oberdorf-nw.ch
Komplex: Stadtplanung ist eine zentrale Aufgabe der öffentlichen Hand, so lautet eine der Thesen des Manifests. Doch Gemeinden und Kantone verweigerten sich der Orts- und Stadtplanung weitgehend. Diese ende räumlich an der Gemeindegrenze und zeitlich an der Legislatur, es fehle an übergeordneten Entwicklungen und an Visionen. Wie beurteilen Sie diese Kritik aus Ihrer politischen Praxis heraus?
MR: Das hat mit den Chancen und Risiken des Föderalismus zu tun. Denn alles, was wir machen, muss letztlich von der Bevölkerung mitgetragen werden. Das impliziert, dass die individuellen Entwicklungswünsche der Kantone und Gemeinden bis zu einem bestimmten Grad der Zielsetzung des Raumplanungsgesetzes widersprechen können. Es ist allerdings keine Frage, ob wir wachsen wollen oder nicht. Wenn die Bevölkerung der Schweiz wächst, dann ist es unsere Aufgabe, dies zu bewältigen. Entweder schauen wir zu und lassen es geschehen, oder wir nehmen eine aktive Rolle ein und sagen: Wir haben den Auftrag, die Lebensqualität und die Wohnsituation zu verbessern, und wir gestalten diese Herausforderungen auf eine gute Art, mit guten städtebaulichen Mitteln. Dabei müssen wir als verlässliche Partner mit Grundeigentümern und Investoren gemeinsame Zielsetzungen entwickeln. Wir haben Instrumente wie Richtpläne oder Nutzungsplanungen, die über eine Legislatur hinaus gelten. Denn die Prozesse dauern weit mehr als vier Jahre und erfordern Planungssicherheit.
TI: Dass wir in einer Gemeinde viele, zum Teil auch politische Partikularinteressen haben, liegt in der Natur der Sache. Mit der Regionalkonferenz Bern-Mittelland, die vor über zehn Jahren eingeführt wurde, besitzen wir gemeindeübergreifende Instrumente, um Entwicklungen auch ausserhalb der kommunalen Ebene zu koordinieren. Aber ich habe den Eindruck, wir sind noch nicht dort, wo wir sein sollten. Man muss sich auf die Zukunft vorbereiten, und das geht nur mit planerischen Instrumenten.
JOF: Als Gemeindepräsidentin liegt es in meiner Verantwortung, die Visionen zu präsentieren und die Menschen für die Projekte, die wir planen, zu begeistern. Es ist wichtig, dranzubleiben und nicht den Mut und die Ausdauer zu verlieren, auch wenn es über mehrere Amtszeiten hinweg dauern kann.
TI: Ich sage immer wieder, dass wir Dinge probieren und mutig sein müssen, selbst wenn wir mitunter an der Schweizer DNA scheitern. Wir sind gefordert, neue Wege zu gehen, kreativ und unkonventionell zu sein. Da helfen auch die Bürgerinnen und Bürger mit. Wichtig ist, dass ich ihnen in ihrer Sprache erklären kann, worum es geht. Auch wenn wir grosse Gemeinden sind, haben wir das Privileg, diese Diskussionen dort, wo das Leben spielt, zu führen und zu zeigen, was möglich ist und was nicht. Das funktioniert nur, wenn ich in den Dialog eintrete.
Zum Teil hat die Politik aber den Anspruch, alles besser zu wissen. Dabei wäre es so einfach, Gehör zu schenken und Vertrauen zu schaffen.
Komplex: Die Frage der Kommunikation scheint sehr wichtig. Bauen und Planen sind relativ komplexe Prozesse, die sich für viele Bürgerinnen und Bürger der Nachvollziehbarkeit entziehen. Wie schafft man den kommunikativen Transfer? Wie ist Partizipation möglich?
JOF: Letztlich verstehen wir uns als Dienstleistungsunternehmen für unsere Bürgerinnen und Bürger. Wir werden von ihnen bezahlt, wir wollen sie unterstützen und nicht nur Hindernisse aufzeigen. Unser Ziel ist es, voneinander zu profitieren, eine funktionierende Gemeinschaft zu sein und die bewährten Strukturen zu erhalten. Als Nehmergemeinde im innerkantonalen Finanzausgleich stellt uns das vor zusätzliche Herausforderungen. Wenn Oberdorf eine Parzelle vom Kanton erwerben will, liegt die Entscheidung beim Landrat. Wir müssen zeigen, dass wir verantwortungsbewusst mit den Finanzen umgehen und dem Kanton eine positive Entwicklung in unserer Gemeinde ermöglichen.
MR: Partizipation funktioniert dann, wenn ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann: zur Bevölkerung, aber auch zum Kanton. Wir sind keine Insel, sondern Teil der Agglomeration, und wir können uns nicht nur darauf fokussieren, zu profitieren und die Rosinen zu picken. Wir haben auch etwas zu leisten. Zuweilen stossen wir an Grenzen, weil die Planungsinstrumente und Situationen komplex und nicht auf Anhieb nachvollziehbar sind. Wir müssen uns erklären und unser Vorgehen plausibilisieren. Wenn wir sagen: Wir haben als stadtnahe Gemeinde gute Bahnhöfe, wir haben einen Siebeneinhalb-Minuten- Takt, wir sind Nachbarn von Bern, und wir nutzen die Chance, hier zu verdichten, dann wird das verstanden. Geht es dann darum, das umzusetzen, sagt der Nachbar: Verdichtung ist gut, aber nicht bei mir. Das können wir nicht vermeiden. Aber wenn es uns gelingt, klarzumachen, dass Nachverdichtung nicht mehr Beton bedeutet, sondern auch die Chance, Grünflächen zu schaffen und Zentrumsfunktionen zu stärken, wenn wir mit offenen Karten spielen und kritische Rückmeldungen ernst nehmen, dann können wir viel erreichen. Wir wollen ja etwas realisieren, das auch städtebaulich gut ist. Wenn wir uns nicht in einen transparenten Entscheidungsprozess hineinbegeben, haben wir schon verloren.
Marco Rupp
ist in Köniz aufgewachsen und absolvierte ein Studium der Geografie an der Universität Bern, das er 1986 mit der Promotion abschloss. Zehn Jahre war er beim Kanton als Projektleiter Siedlung tätig, anschliessend wechselte er in ein privatwirtschaftliches Büro für Raumplanung und unterrichtete Raumplanung und -entwicklung an der Uni Bern. Seit 1990 in Ittigen bei Bern ansässig, engagiert er sich politisch bei der bürgerlich-liberalen Bürgervereinigung Ittigen BVI, unter anderem als Vertreter im Gemeinderat 1997 bis 2008. Seit 2015 amtiert er als Gemeindepräsident. → ittigen.ch
Komplex: Es herrscht gesamtgesellschaftlich ein Klima, in dem die Aggressivität zunimmt. Wie erleben Sie das beim Aushandeln von planerischen Prozessen?
TI: Als ehemaliger Eisenbahner bin ich gewissermassen branchenfremd zur Planung gekommen. Ich durfte enorm viel lernen, aber ich habe das Gefühl, dass bei Jurys gerade von externen Teilnehmenden stark an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei argumentiert wird und der Bezug zu den Gegebenheiten vor Ort fehlt. Ich habe grosse Hochachtung vor der Architektur und dem Prozedere des Wettbewerbs. Wir müssen aber auch den Mut haben, einfach mal etwas anderes zu machen. Der BäreTower etwa, in dem wir gerade sitzen, ist nicht das Resultat eines Wettbewerbs und hat es doch in diverse Fachzeitschriften geschafft, die seine Qualität bestätigt haben. Es muss eben je nach Situation auch möglich sein, unterschiedliche Wege zu gehen.
MR: Ich begeistere mich durchaus für die Kreativität der Architekten und ihrer Teams in den Wettbewerben. Doch eine faszinierende städtebauliche Lösung allein reicht nicht für politische Mehrheiten.
TI: Die Bürgerinnen und Bürger, von denen viele ihre Krankenkassenprämien nur noch knapp bezahlen können, verstehen nicht, dass man für einen Studienauftrag mehrere 10 000 Franken ausgeben muss. Wir brauchen wieder mehr Pioniergeist und Mut statt schwerfälliger und schwer vermittelbarer Planungsverfahren.
MR: Der Diskurs wurde ganz klar intensiviert und auch die Quartierarbeit ausgedehnt. Wir haben uns zu lange in Richtung einer Individualgesellschaft bewegt und stellen fest, dass der soziale Zusammenhalt viel mehr zum Thema werden sollte. Vielleicht ein Prozent der Menschen ist querulatorisch gesinnt, das lässt sich nicht ändern. Wir müssen uns konzentrieren auf die grossen, breiten Kräfte in der Bevölkerung, die konstruktiv sind.
TI: Was mich stark beschäftigt, ist der politische Fachkräftemangel. Ich betrachte das als eines der grössten Risiken für unsere Gesellschaft, verbunden mit den Auswirkungen, die wir zu einem Teil aus der Pandemie mitgenommen haben. Stichwort Wutbürger. Ich frage mich, wie wir die Qualitäten, die uns allen so lieb sind, unter den veränderten Rahmenbedingungen auch noch für die nächsten Generationen erhalten können.
JOF: Die Teilnehmerzahlen bei unseren Gemeindeversammlungen sind eher gering. Die meisten Besucher gehören der älteren Generation an, oder sie sind aufgrund ihrer politischen Funktion anwesend. Das beunruhigt mich, denn die Entscheidungen, die hier getroffen werden, betreffen vor allem die Jüngeren. Es ist wichtig, dass auch sie sich engagieren und einbringen. Aber wie können wir sie dazu motivieren? Entscheidend ist, dass wir die richtigen Personen an den Tisch bringen und ihr Interesse an der Gemeinde wecken. Wir müssen Wege finden, die junge Generation zu erreichen und für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zu begeistern. Es ist wichtig, dass sich jeder Einzelne einbringt, mitarbeitet und mitgestaltet. Die Vereine haben zwar viele Mitglieder, aber leider ist es weit verbreitet, dass niemand mehr Verantwortung übernehmen möchte. Diese Entwicklung betrifft nicht nur uns. Darum müssen wir die Situation gemeinsam verändern und wieder mehr Menschen für die Mitgestaltung in unseren Gemeinden gewinnen.
MR: Wir haben den Fachkräftemangel auch in der Politik, bei den Kommissionen, im Gemeinderat. Ich möchte allerdings differenzieren: Die Menschen engagieren sich dort, wo sie betroffen sind. Sie wollen aber nicht zehn Jahre in einem Verein sein und dann Kassier werden und schliesslich Präsident. Es gibt Gemeindeversammlungen, an denen 80 Personen teilnehmen, und andere mit 850 Teilnehmenden, sofern es sie interessiert.
Komplex: Dennoch gibt es neue Themen, die alle betreffen, und die gerade bei einer jungen Generation auf Interesse stossen. Wenn wir auf den Bausektor blicken, sind es die Kreislaufwirtschaft, Ressourcenschonung oder nachhaltige Baustoffe. In den vergangenen Jahren hat sich in dieser Hinsicht viel getan, und auch arrivierte Architekturbüros denken um. Was bedeutet das für Sie?
TI: Der sorgsame Umgang mit dem Bestand ist auch bei uns zu einem wichtigen Thema geworden. Auftakt war der Wunsch eines Investors, eine Wohnüberbauung aus den 1980er-Jahren nur zu sanieren. Doch der beauftragte Architekt setzte sich für eine Aufstockung mit einer neuartigen Holz-Leichtbauweise ein. Der Vorschlag gewann die Volksabstimmung und befindet sich jetzt in der Realisierung. Auch bei einer anderen grossen Arealentwicklung – wir sind als Gemeinde nicht die Eigentümerin – haben wir ins Wettbewerbsprogramm aufgenommen, den Baubestand möglichst zu integrieren.
Thomas Iten
hat einen grossen Teil seiner Kindheit in der Berner Agglomerationsgemeinde Ostermundigen verbracht, wo er sich auch vielfältig ehrenamtlich engagiert. Der ehemalige Bahnbetriebsdisponent übernahm verschiedene kommunalpolitische Ämter; 2004 wurde er Mitglied des Gemeinderats und ist seit 2013 Gemeindepräsident von Ostermundigen. Ursprünglich Mitglied der SP, gewann er die Wahl als parteiloser Kandidat. → ostermundigen.ch
Komplex: Bauen bedeutet Veränderung, und Veränderung bedeutet neben Gewinn auch Verlust. Der Philosoph Hermann Lübbe hat einmal von einem «änderungstempobedingten Vertrautheitsschwund» gesprochen: Verändert sich in einer Zeiteinheit lebensweltlich zu viel, so führt das zu starkem Unbehagen in der Bevölkerung. Gibt es Ihres Erachtens Grenzen der Veränderung und Grenzen des Wachstums?
TI: Man könnte es sich als Gemeinde leicht machen und sich auf die Vorgaben berufen. Ich habe aber den Eindruck, dass es Grenzen der Veränderung gibt. Wenn sich die Lebensräume dynamisch verändern, dann bedarf es anderer Sicherheiten, an die man sich halten kann. Sicherheit hat auch mit Vertrauen zu tun. Traue ich der Politik, gibt sie mir die Sicherheit, sodass ich bereit bin, den Weg der Veränderung zu gehen? Und wenn ich eingangs von 1500 zusätzlichen Bewohnerinnen und Bewohnern in meiner Gemeinde gesprochen habe, so stellt sich für mich die Frage, wie wir dieses Wachstum bewältigen können und welche Steuerungsmechanismen wir anwenden sollten. Es gibt einen Trend, dass man wieder kleiner baut, die pro Kopf beanspruchte Wohnfläche scheint zu sinken. Wir bewegen uns in einem Prozess und sind noch am Suchen. Wir stellen uns die Frage, was in zwanzig oder dreissig Jahren benötigt wird. Die Antworten sind nicht einfach.
MR: Es gibt Skeptiker, und es gibt diejenigen, die die Veränderung wollen. Uns muss es gelingen, den Mehrwert der Veränderung aufzuzeigen. Das ist ein Prozess, der Zeit benötigt – und viel Überzeugungsarbeit. Wir erleben einen gesellschaftlichen Wandel. Die Tage, in der eine traditionelle Familie in ein Einfamilienhaus zieht, dort dann 50 Jahre lang wohnt, und eine Eigentümergemeinschaft die Immobilie schliesslich verkauft, sind vorbei. 30 Prozent unserer Bevölkerung sind über 65 Jahre alt. Auch die klassische Dreizimmerwohnung stösst nicht mehr auf die frühere Nachfrage. Abgesehen von energetischen Überlegungen, zwingen uns all diese Entwicklungen zum Umbau von grossen Teilen unserer Bausubstanz. Die Kreislaufwirtschaft, die ja schon kurz angesprochen wurde, steht allerdings erst ganz am Anfang. Angesichts des demografischen Wandels habe ich keine Angst, dass nicht mehr gebaut wird. Doch Investoren müssen einsehen, dass es nicht mehr ausschliesslich darum geht, Renditeobjekte zu erstellen.
Wir als Gemeinden sollten Selbstdisziplin hinsichtlich der Baubewilligungsverfahren üben, und die Wirtschaft benötigt ihrerseits ein verändertes Mindset, um in Zukunft gemeinsam Werte zu schaffen, die für unsere Bevölkerung einen Gewinn generieren.