Wie Stadt entstehen kann

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David Willen

Die Rahmenbedingungen für die Revitalisierung des Zwicky-Areals an der Grenze zwischen Wallisellen und Dübendorf waren nicht einfach: Durch Infrastrukturachsen ist das Gelände der einstigen Zwirnerei von benachbarten Siedlungsbereichen abgeschnitten. Mittels Umnutzung der denkmalgeschützten Bausubstanz und kompakter Neubauten entsteht hier ein neues Stück Stadt. Nun ist das zentrale Baufeld neben den historischen Industriegebäuden fertig geworden: das Zwicky-Zentrum mit vier Gebäuden von Giuliani Hönger und einem Solitär von Zanoni Architekten.

Die Katze ist wieder da. Seit 1946, als sie der Schweizer Gebrauchsgrafiker Donald Brun erfunden hatte, warb sie, mit einer Garnrolle zwischen den Pfoten, für Nähseide der Firma Zwicky. Nicht zuletzt dank der Katze mit ihrem Fünfzigerjahre-Charme kannte fast jeder in der Schweiz die Produkte der Firma. Und weit darüber hinaus, denn Zwicky-Nähseide wurde weltweit vertrieben. Bis die globalisierte Wirtschaft mit der Herstellung in Billiglohnländern eine Produktion in der Schweiz unrentabel machte. Der Krise hatte man zunächst durch die Entwicklung von Produkten für die Automobilindustrie zu trotzen versucht. Doch nach dem Zusammengehen mit dem in Gutach im Breisgau ansässigen Unternehmen Gütermann 2001 wurde die Produktion im Stammwerk Wallisellen nach langen Krisenjahren endgültig eingestellt. Die Phase der Konversion begann, die 23,6 Hektar des früheren Industrie-Areals wurden umgenutzt. Wohnungen und Ateliers entstanden, wo früher Garnspulen gewickelt wurden. Auf verschiedenen Baufeldern wurden Neubauten errichtet, unlängst auch im Kernbereich des ehemaligen Industrie- Areals. Zwicky-Zentrum heisst dieser Teil des Gesamtareals. Und die Katze von Brun mit Garnknäuel ziert nun die Vermarktungsbroschüren für die Wohnungen und Gewerbeflächen.

Die neuen Gebäude stufen sich nach Süden hin ab, um auf die Massstäblichkeit der umgenutzten Fabrikbauten zu reagieren. Je ein siebengeschossiges und ein viergeschossiges Volumen umfassen einen Hofraum. Durch die breiten Öffnungen und die differenzierten Höhen wird der Eindruck einer Blockrandbebauung vermieden.
An den Neuguetplatz grenzt auch der parkartige Freibereich mit der ehemaligen Fabrikantenvilla, einem Werk des Architekten Erhard Gull aus dem Jahr 1930.

Umzingelt von Strassen und Gleisen

Wie anderenorts in der Schweiz war auch hier die Wasserkraft der Motor der Industrialisierung. 1839 entstand dort, wo der Chriesbach in die Glatt mündet, die Spinnerei Neugut. Das Gebäude-Ensemble wuchs kontinuierlich, zumal auch Kosthäuser für die Unterbringung der Arbeiter gebaut werden mussten. Damals bildete die Fabrikanlage eine Insel inmitten von Wäldern und Wiesen, gleich weit entfernt von den Dörfern Wallisellen, Schwamendingen und Dübendorf. Um 1902 entstand eine neue Zwirnerei; erst sechs Jahrzehnte später musste die Firma an ihrem Ursprungsstandort noch einmal expandieren.

Mit dem Wachsen der Metropole nach dem Zweiten Weltkrieg verdichtete sich die Zürcher Peripherie. Die Landschaftsräume wichen, und doch bewahrte die Spinnerei Neugut ihre Insellage: Die Autobahn A1 trennte das Areal in den Siebzigerjahren von Wallisellen ab, überdies wurde im Westen ein überdimensionierter Zubringer als Verbindung zwischen Überlandstrasse und Autobahn eingerichtet. Aufgrund der baulichen Massnahmen in der Umgebung sank der Wasserstand in Glatt und Chriesbach, sie wurde tiefer gelegt und kanalisiert, aber die Wasserkraft liess sich fortan nicht mehr nutzen. Im folgenden Jahrzehnt kam im Zuge des Ausbaus der S-Bahn Zürich ein sich nach Nordosten hin verzweigender Eisenbahnviadukt hinzu. Damit war das Zwicky-Areal von Infrastrukturachsen nicht nur umzingelt, sondern auch durchschnitten.

Keine gute Ausgangslage mithin für die Revitalisierung des Areals, als die Produktion 2001 eingestellt wurde. Doch die Eigentümer waren von den Potenzialen überzeugt und liessen 2003 einen privaten Gestaltungsplan durch den Hausarchitekten Tomaso Zanoni erarbeiten, der eine Mischnutzung aus Wohnen und Gewerbe vorsah. Dafür wurde das nur teilweise bebaute Gesamtareal in einzelne Baufelder gegliedert. Zunächst entstanden 2007 Wohnungen im alten Verwaltungsgebäude, ab 2009 begann man mit Neubauten auf den bislang unbebauten Bereichen. Im Westen wurde eine lang gestreckte hofartige Wohnbebauung nach Plänen von Spühler Architekten erstellt, am S-Bahn-Viadukt auf der anderen Seite der Neugutstrasse ein Geschäftshaus von Tomaso Zanoni, das auch die Swiss International School beherbergt, dahinter, ganz im Nordosten, ein Wohnkomplex von Fischer Architekten.

Der erhaltene Hochkamin mit dem Schriftzug «Zwicky» bildet die Dominante der historischen Fabrikbauten. Sie entstanden sukzessive im 19. Jahrhundert und fanden mit der Zwirnerei (in der Bildmitte) ihren vorläufigen Abschluss.
Erdgeschoss-Atelierwohnung im östlichen der Wohnkomplexe von Giuliani Hönger. Die Wohnfläche umfasst 77,8 Quadratmeter. Zur Wohnung gehört auch eine Terrasse mit 20 Quadratmetern.
Hinter den Pfeilerarkaden im Erdgeschoss der Bauten von Giuliani Hönger sind kleine Geschäfte eingezogen. Ausserdem finden sich im Zwicky-Zentrum ein Supermarkt und zwei Lokale. Zusammen mit weiteren Gewerbeflächen in den historischen Zwirnereibauten und den Ateliers ist ein lebendiges Stadtquartier entstanden.
Der Neuguetplatz liegt zwischen den beiden Wohnkomplexen von Giuliani Hönger. Die Treppe führt hinauf zum erhöhten Hofbereich zwischen dem siebengeschossigen Wohnblock entlang der Neugutstrasse und dem niedrigeren, mit Klinkern verkleideten Gebäude gegenüber der historischen Zwirnerei.

Verdichtung und kritische Masse

Die grösste Herausforderung stellte das Baufeld E dar, besser bekannt unter Zwicky-Süd. Denn dieses liegt unmittelbar im Zwickel zwischen Bahnviadukt und den viel befahrenen Magistralen Neugut- und Überlandstrasse. Über die Immobilienberatungsgesellschaft Wüest & Partner kamen die Grundstückseigentümer in Kontakt mit der Stadtzürcher Baugenossenschaft Kraftwerk 1, die nicht nur durch experimentelle Konzepte im Wohnbau aufgefallen ist, sondern auch Erfahrung mit städtischen Randlagen besitzt. Das junge Büro Schneider Studer Primas, das den Studienauftrag des Jahres 2009 für sich entscheiden konnte, setzte mit Sichtbeton, Stahl und Drahtgittern bei der Siedlung, die sich nach aussen abschirmt und ihre Qualitäten in den Gassen und Plätzen zwischen den Blöcken sowie im Inneren der unkonventionellen Wohnungen offenbart, bewusst auf die Rauheit – aus gutem Grund, wäre doch verniedlichende Kleinteiligkeit an diesem Standort ebenso unangemessen wie die Reaktivierung traditioneller Muster des Städtebaus.

Erst als die Umsetzung auf dem Baufeld E in die Wege geleitet war, begann die Planung für das Baufeld A. Nicht ohne Grund hatte man mit dem Teilbereich Zwicky-Zentrum zunächst abgewartet, um auf die Erfahrungen mit den übrigen Baufeldern reagieren zu können. Und zwar sowohl hinsichtlich des Wohnungsangebots als auch bezüglich der Geschäftsstruktur. Der Erfolg von Zwicky-Süd, bei dem die Baugenossenschaft Kraftwerk auf einen Bevölkerungsmix zielt, der dem Stadtzürcher Durchschnitt entspricht, gab auch hier die Anregung, nicht die üblichen Wohnkonzepte für den Stadtrand zu realisieren. Ohnehin sah der Bebauungsplan, der 2012 in aktualisierter und revidierter Version vorlag, eine hohe Verdichtung vor. Und das nicht allein aus ökonomischen Gründen; entscheidend war auch die Notwendigkeit, angesichts der Insellage mit einer dichten Bebauung so viele Bewohnerinnen und Bewohner anzulocken, dass Geschäfte tatsächlich funktionieren und kein weiteres Schlafgetto, sondern ein lebendiges Stadtquartier entsteht. Und dieses hat nun mit dem Zwicky-Zentrum tatsächlich sein Zentrum erhalten. Bei einem Rundgang wird deutlich: Es wirkt hier urbaner als ringsum in den meisten Teilen von Wallisellen, Dübendorf oder Schwamendingen.

Erheblich zur Qualität des neuen Siedlungszentrums tragen die denkmalgeschützten, zu Büros, Gewerbeflächen und Wohnungen umgewandelten Ziegelbauten der alten Textilfabrik bei. Dabei handelt es sich um drei parallele Baukomplexe: die kleinteiligen Färbereibauten am Ufer der Glatt, eine Zeile von Fabrikbauten mit Maschinenhallen und dem samt Aufschrift mit Firmennamen als vertikale Dominante fungierenden Hochkamin sowie schliesslich die Zwirnerei aus dem Jahr 1902. Den Abschluss Richtung Westen bildet ein exakt rechtwinklig zu den drei Zeilen angeordneter Baukomplex mit der früheren Verwaltung. In Verlängerung der Zwickystrasse, auf deren westlicher Seite sich die Wohnbauten von Martin Spühler und ein zum Spinnerei-Areal gehöriger ehemaliger Gutshof anschliessen, führt eine Brücke über die Glatt, wo die einstigen Kosthäuser der Arbeiter noch der Sanierung harren. Dahinter wird derzeit auf dem Baufeld D nach Plänen von Localarchitecture aus Lausanne die sieben- bis achtgeschossige Wohn- und Geschäftsbebauung Zwicky-Riedgarten mit weiteren 215 Wohneinheiten realisiert.

Hinter den Pfeilerarkaden im Erdgeschoss der Bauten von Giuliani Hönger sind kleine Geschäfte eingezogen. Ausserdem finden sich im Zwicky-Zentrum ein Supermarkt und zwei Lokale. Zusammen mit weiteren Gewerbeflächen in den historischen Zwirnereibauten und den Ateliers ist ein lebendiges Stadtquartier entstanden.

Fünf Bauten, 194 Wohnungen

In einem Wettbewerb im Jahr 2014 konnte sich das Zürcher Architekturbüro Giuliani Hönger mit seinem Vorschlag für das Baufeld A durchsetzen. Die Gesamtinvestition für die fünf Gebäude – vier von Giuliani Hönger, eines von Zanoni Architekten – betrug 90 Millionen Franken. Halter entwickelte das Projekt im Auftrag der Zwicky & Co. AG, führte es durch den Wettbewerb und konnte den Investor Anfos, einen Immobilienfonds der UBS, akquirieren.

Die Neubauten fügen sich hinsichtlich Ausrichtung, Anordnung und Volumetrie in das System der bestehenden Bauten ein. Bei den Bauten von Giuliani Hönger handelt es sich um zwei gegeneinander versetzte blockartige Ensembles aus jeweils zwei Baukörpern. Die Baukörper auf der Nord- und Ostseite sind siebengeschossig, die auf der Süd- und Westseite jeweils viergeschossig, um zur historischen Fabrikarchitektur mit ihren maximal vier Geschossen zu vermitteln. Der Baukomplex, der unmittelbar an den Eisenbahnviadukt anschliesst, besteht aus zwei winkelförmigen Volumina, die einen gemeinsamen ebenerdigen Hof umschliessen; die beiden Gebäude, die näher an der Neugutstrasse liegen, teilen sich ein gemeinsames Podium als öffentlichen Aussenraum, da hier eine grosse, zusammenhängende Fläche für einen Supermarkt auf Erdgeschossniveau geschaffen werden musste. Für die Fassaden wählten die Architekten ein massives Sichtmauerwerk aus Klinkern. Die Strukturierung mittels vortretender Vertikalen und zurückspringender Brüstungszonen knüpft ebenso wie die Materialisierung an die historischen Bauten an, während der beige changierende Farbton sich vom Gelb und Rot der Verblendklinker des Bestands absetzt. Bei den siebengeschossigen Bauteilen findet sich der Klinker nur an der Erdgeschosszone. Die oberen Geschosse besitzen helle, aussengedämmte Putzfassaden.

Zanoni wählte einen gelblicheren Farbton für sein sechsgeschossiges Gebäude, das als Solitär die mittlere Reihe der Fabrikbauten fortsetzt und zusammen mit dem Gebäude von Giuliani Hönger eine Torsituation bildet, wenn man von Zwicky-Süd oder vom Eisenbahnviadukt her kommt.

Was man in vielen anderen Neubausiedlungen vermisst, ist im Zwicky-Zentrum gelungen: Die Erdgeschosse weisen eine grössere Raumhöhe auf und werden weitestgehend für Geschäfte genutzt. Hinter den Pfeilerarkaden der viergeschossigen Baukörper reihen sich kleine Boutiquen und Geschäfte mit Flächen zwischen 22 und 58 Quadratmetern. Dazu kommen ein kleines Café-Restaurant am Neuguetplatz zwischen den beiden Giuliani-Hönger-Baukomplexen und die Hardwaldbrauerei, die zusammen mit einer Gaststätte das Erdgeschoss des Zanoni-Gebäudes nutzt. Im Sommer wird darüber hinaus die zur Glatt hin vorgelagerte Freifläche als Biergarten genutzt.

Im Zanoni-Bau befinden sich in den oberen Geschossen ausschliesslich Wohn- und Gewerbe-Ateliers, flexibel nutzbare Apartments mit Nasszelle und Reduit, bei denen die Fläche zwischen 42 und 67 Quadratmetern variiert. Andere Atelierwohnungen findet man in den Bauten von Giuliani Hönger, dort in Form von Maisonettewohnungen mit doppelt hohem Hauptraum und Schlafbereichen auf der Galerie-Ebene. Von den insgesamt 194 zur Verfügung stehenden Wohnungen des Zwicky-Zentrums sind 44 Atelierwohnungen. Ansonsten variiert die Grösse zwischen 1,5 und 4,5 Zimmern. Der Hauptanteil von 78 entfällt auf 2,5-Zimmer-Wohnungen mit Flächen von 53 bis 75 Quadratmetern. Nahezu sämtliche Wohnungen besitzen Aussenräume, meist in Form von Loggien. Für die Nutzer der Atelierwohnungen im Zanoni-Gebäude steht eine gemeinsame Dachterrasse zur Verfügung.

Tatsächlich funktioniert das Areal wie eine Stadt im Kleinen (und eben nicht wie eine Kleinstadt). Durch die überzeugende Positionierung der Baukörper konnte die sich zwischen den bestehenden Bauten aufspannende Platz- und Strassenstruktur nahtlos in ihrer Körnigkeit fortgesetzt werden. Richtung Neugutstrasse schliesst sich ein vom Strassenlärm durch eine Lärmschutzwand abgeschirmte Grünzone um die Fabrikantenvilla an, die 1930 durch Erhard Gull, den Sohn des Zürcher Stadtbaurats Gustav Gull und langjährigen ETH-Professor, errichtet wurde. Auf der anderen Seite erhebt sich seit Jüngstem das Hotel- und Wohnhochhaus Neuguet von Ramser Schmid Architekten.

Im Süden fungiert die Glatt samt Uferwegen als Erholungsraum. Sie sieht hier längst nicht mehr aus wie ein Kanal, und auch der Chriesbach wurde in den vergangenen Jahren renaturiert. Schliesslich gibt es noch den Raum unterhalb des Viadukts. Seitdem ihn beidseitig die neuen Bebauungen fassen, ist die Zäsur zwischen den beiden Baufeldern zu einem verbindenden Element geworden. Und die Leerstelle unter den Gleisen lässt räumliches Potenzial erkennen, das als wettergeschützter Freiraum auf Entdeckung und Nutzung wartet.

Baufeld A, Schnitt und Ansicht entlang der Achse Neuguetplatz
Erdgeschoss, Zwicky-Zentrum
Regelgeschoss, Zwicky-Zentrum
Situation Baufeld A

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2019 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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