Von Schlieren nach Hollywood

Eigentlich besteht der jüngste Wohnblock am Rietpark in Schlieren aus zehn Häusern mit ganz unterschiedlichen Wohnungstypen. Doch die Häuser stehen nicht nebeneinander, sondern sind zu einem Block verschmolzen. Von einer gemeinschaftlichen Halle aus gelangt man zu den einzelnen Treppenhäusern. Bewusst haben die Architekten Steib Gmür Geschwentner Kyburz nur zwei Eingänge angelegt.

Die auskragenden Balkone an der Nordfassade akzentuieren das Gebäude zur Brandstrasse hin. Sie sind so ausgebildet, dass die Morgen- und Abendsonne eingefangen werden kann.
Im nördlichen Eingangsbereich, unter einer goldenen Flachkuppel, befindet sich die Briefkastenanlage. Dahinter liegt eine über zwei Innenhöfe belichtete Erdgeschosshalle mit einem Wald von Rundstützen.
Das Farbkonzept für die rohen Betonwände in den Treppenhäusern stammt vom Künstler Peter Roesch. Er wählte zehn unterschiedliche, leuchtende Farben für die zehn Aufgänge.

2001, vor 20 Jahren, begann die Neuplanung für die einst industriell genutzten Brachen nördlich des Bahnhofs Schlieren im Limmattal westlich von Zürich. Jetzt ist die Transformation weitgehend abgeschlossen: Auf dem westlich gelegenen Färbi-Areal und dem östlich anschliessenden Areal der früheren Leimfabrik Geistlich ist ein neuer Stadtteil entstanden, dem der Name amRietpark gegeben wurde. Sein Herzstück bildet ein 600 Meter langer und gut vier Hektar grosser namensgebender Park, der allseitig von Neubauten umgeben ist. Eine Lücke besteht lediglich auf der Südostseite unmittelbar an der Bahntrasse. Das hier seit Langem ansässige Racket-Sportcenter mit seinen Tennis- und Badmintonplätzen sowie Squashboxen soll 2022 geschlossen und an einen Standort nahe der Zürcher Stadtgrenze verlegt werden. Dann steht der letzten Ausbauetappe des Stadtteils nichts mehr im Weg – drei weitere Baufelder könnten das Ensemble komplettieren.

Entscheidend für die urbanistische Grundfigur war der Masterplan für das Färbi-Areal, mit dem sich das Zürcher Architekturbüro Galli Rudolf und der Landschaftsarchitekt Andreas Geser in einem von Halter Entwicklungen 2003 durchgeführten Wettbewerb durchsetzen konnten. Sieben Jahre später gewann EM2N zusammen mit Schweingruber Zulauf (heute Studio Vulkan) die Konkurrenz für das angrenzende Geistlich-Areal, wobei sie die wesentlichen Charakteristika der Konzeption von Galli Rudolf aufgriffen und auch das zentrale Parkband fortführten. Als erstes Projekt dieses Entwicklungsgebiets wurde der Eigentumswohnungsblock Magnolia nach einem Entwurf von Enzmann und Fischer realisiert. 2015 fielen Entscheidungen in gleich drei weiteren Studienaufträgen: Gmür & Geschwentner konnten im an Magnolia anschliessenden Baufeld C.1 die Konkurrenz von BDE, Hauenstein La Roche Schedler, Meletta Strebel und Schneider Studer Primas ausstechen, während an der nordöstlichen Arealecke Graber Pulver und südlich davon E2A zum Zug kamen. Alle drei Baukomplexe wurden 2020 fertiggestellt und bezogen.

Wie eine Skulptur winden sich die Stufen und Geländer im grünen Treppenhaus in die Höhe. Die Ausführung wirkt bewusst industriell und erhält dadurch ihre Spontanität und Frische.
Blick in einen doppelgeschossigen, zu einem der beiden Innenhöfe gerichteten Wohnraum. Die 2,5- bis 5,5-Zimmer-Wohnungen sind alle unterschiedlich gestaltet und lassen verschiedene Wohnformen zu.

Urbane Dimensionen

Der orthogonale Block von Gmür & Geschwentner – heute Steib Gmür Geschwentner Kyburz – besitzt wahrhaft grossstädtische Dimensionen: Er ist mehr als 100 Meter lang, 50 Meter tief und acht Geschosse hoch, wobei die Verblendung der Technikbereiche auf dem Dach optisch wie ein zusätzliches Geschoss erscheint. Durch die klare Disposition des Masterplans spannt sich das im Auftrag der Bauherrschaft Helvetia Versicherungen von Halter Gesamtleistungen erstellte Gebäude in Querrichtung zwischen der Brandstrasse im Norden, die als verkehrliche Haupterschliessung des Quartiers fungiert, und dem Fussgängern und Velofahrern vorbehaltenen Rietpark im Süden auf.

Diese doppelte Orientierung blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Nutzungsverteilung im Inneren: Das strassenseitige Erdgeschoss bietet einer Reihe von Ladenlokalen Platz, um den Strassenraum zu beleben; eine weitere Geschäftsfläche findet sich hinter der Pfeilerarkade, die an der östlichen Stirnseite zum Park vermittelt. Im ersten Obergeschoss stehen zur Strasse hin Büroflächen zur Verfügung – doch ansonsten dient der Block vorrangig dem Wohnen. Dabei bestand die eigentliche Herausforderung darin, wie die insgesamt mehr als 200 Wohnungen in dem gewaltigen Bauvolumen angeordnet und erschlossen werden könnten. Die enorme Bautiefe legte eine Hoflösung nahe, die Länge von 100 Metern erlaubte einen Querriegel. Leicht aus der Mitte verschoben, lässt dieser zwei unterschiedliche Hofräume entstehen: einen kleineren östlichen mit nahezu quadratischem Grundriss und einen grösseren westlichen mit längsrechteckigem Zuschnitt.

Die Zürcher Landschaftsarchitekten Balliana Schubert haben die beiden Höfe, die aufgrund ihrer Grösse veritable kleine Parks darstellen und von verschiedenen Seiten aus zugänglich sind, auch unterschiedlich gestaltet: Das zwischen den niveaugleichen Pflanzinseln und Randbegrünungen ondulierende Wegesystem ist im grösseren Hof gepflastert, während es im kleineren aus Betonplatten besteht – hier sind die mit Spielgeräten bestückten Pflanzinseln erhöht angelegt und von Betonelementen umgeben. Ein wesentlicher Unterschied besteht zudem darin, dass die Südfront des Gebäudes vor dem quadratischen Hof lediglich viergeschossig ausgebildet ist. Trotz der steileren Proportionen des Binnenraums erhalten die über die Innenfassaden belichteten Wohnungen somit genügend Helligkeit.

Die Hofräume bringen Licht in den Block, fungieren als geschützte Aussenbereiche – und sie spielen eine wichtige Rolle bei der Erschliessung der Wohnungen. Denn betreten wird das Haus eigentlich nur an zwei Stellen, nämlich dort, wo der Querriegel auf die Strassen- und die Parkfront trifft. Wer nicht mit dem Velo kommt – über kleinere stirnseitige Eingänge erreicht man die Abstellräume auf direktem Weg –, muss durch diese Nadelöhre. Über die grosse Halle im Erdgeschoss des Querriegels gelangt man dann mittels verglaster Galerien entlang der Höfe zu den insgesamt zehn Treppenhäusern. Die Entscheidung, die Treppenhäuser nicht nach aussen, sondern nach innen zu orientieren, ist ein ebenso simples wie wirkungsvolles Mittel, das anonyme Nebeneinander von zehn Häusern zu durchbrechen und die Anzahl möglicher Begegnungen von Bewohnerinnen und Bewohnern zu maximieren. Ein Gebäude mit 200 Wohnungen bietet dafür genügend kritische Masse – und das wirkt sich auch auf die Gestaltung der gemeinschaftlichen Bereiche aus, die dann eben etwas opulenter ausfallen können, als es in einem normalen Wohnhaus der Fall wäre.

Grosse Teile der Fassaden sind mit zwei Millimeter starken, eloxierten Aluminiumwellplatten verkleidet. In den Höfen kam vorwiegend die Eloxalfarbe Bausilber zum Einsatz, nachtblaue Streifen markieren die Geschosse.
In der exponierten Südfassade zum Rietpark hin liegen schützende Loggien. Am westlichen Ende des Gebäudes vorbei fällt der Blick auf die industrielle Bebauung jenseits der Brandstrasse.
Auf dem Querriegel des Gebäudes wurde ein Pool mit holzbeplankten Liegeflächen eingebaut. Er ist von weissen Wänden aus Welleternit umgeben und steht allen Bewohnerinnen und Bewohnern offen.

Mexikanischer Farbrausch

Vier Meter hoch ist die Erdgeschosshalle, die sich zwischen den beiden Eingängen erstreckt und beidseitig über die Höfe belichtet wird. Im nördlichen Eingangsbereich, unter einer goldenen Flachkuppel, befindet sich die gemeinsame Briefkastenanlage, dahinter ist zwischen dem Wald der Rundstützen genügend Raum für informelle Gespräche, aber auch für gemeinsame Feiern. Patrick Gmür konnte hinsichtlich des Konzepts an Erfahrungen anknüpfen, die er mit der 2007 fertiggestellten Wohnanlage James in Zürich-Albisrieden gemacht hatte: Die dortigen 280 Wohnungen verteilen sich zwar auf mehrere Gebäude, doch auch hier bot die hohe Zahl von Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit, den Gemeinschaftszonen besondere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen.

James kann aber noch aus einem anderen Grund als ein Schlüsselwerk gelten, weil Gmür & Geschwentner erstmals bei einer grossen Wohnanlage ein Farbkonzept gemeinsam mit dem Künstler Peter Roesch umsetzten. Die Zusammenarbeit begann schon Ende der 1990er-Jahre und führte wenig später zu einem ersten Höhepunkt beim Schulhaus Scherr (2000–2002) in Zürich, bei dem Roesch eine buntfarbige Palette zum Einsatz brachte, die von der Architektur Luis Barragáns inspiriert ist. Gewissermassen ist diese selbstbewusst-unschweizerische Farbwelt zum Markenzeichen des Architekturbüros geworden, und der Wohnblock am Rietpark ist dafür ein neuerliches Beispiel. Denn jedes Treppenhaus – der Begriff ist hier für einmal im wahrsten Sinne des Wortes zutreffend, weil hinterleuchtete Schilder «Haus 1», «Haus 2» etc. signalisieren – besitzt eine eigene Farbe, die sich an der angrenzenden Wand fortsetzt. Bewegt man sich U-förmig durch das Erdgeschoss und beginnt ganz im Südwesten, so ist die Farbfolge Hellgrün, Gelb, Blauviolett, Rot, Hellblau, Rotviolett, Dunkelgrün, Orange, Blau und Braun / Gold. Die Farben machen Freude, sie geben Orientierung; als Leitsystem sollte man sie gleichwohl nur bedingt verstehen. Sie sind immer einmal wieder moduliert, und hier und da treten auch andere Tönungen hinzu, etwa Silber an den Decken der Obergeschosse. Die tendenziell dunkle Halle, die man zunächst passiert, bringt die bunten Farben noch kräftiger zum Leuchten, und wie auch schon bei anderen Projekten (James, Hard Turm Park) zeigt sich das Äussere des Blocks mehrheitlich dunkel – grosse Teile der Fassaden sind mit zwei Millimeter starken, nachtblau eloxierten Aluminiumwellplatten verkleidet. Wirkungsvoll kontrastiert damit die Eloxalfarbe Bausilber, die mit Geschossstreifen und von Ebene zu Ebene verspringenden Balkonen auf der Strassenseite grafische Akzente setzt, während sie in den Höfen dominant in Erscheinung tritt und dem Nachtblau den rezessiven Part zuweist.

Zwischen den beiden Eingängen erstreckt sich eine vier Meter hohe Erdgeschosshalle, die beidseitig über zwei Höfe belichtet wird. Auch hier kommt das Farbkonzept von Peter Roesch zum Einsatz.
Die beiden Innenhöfe wurden von den Zürcher Landschaftsarchitekten Balliana Schubert gestaltet. Im grösseren Hof onduliert ein gepflastertes Wegesystem zwischen den niveaugleichen Pflanzinseln und Randbegrünungen.

Vielfalt statt Homogenität

Die Aussenräume der Wohnungen sind im Norden als auskragende Balkone ausgebildet, sodass die Morgen- und Abendsonne eingefangen werden kann, die Wohnungen auf der exponierten Südseite zum Park hingegen wurden mit schützenden Loggien versehen. Wie auch bei anderen Projekten des Architekturbüros besticht die Vielzahl unterschiedlicher Wohnungstypen. Die Grösse variiert zwischen 2,5 und 5,5 Zimmern, doch liegt der Unterschied nicht darin, dass hier zwei Zimmer hinzukommen oder dort eines wegfällt. Vielmehr gibt es Wohnungen mit Tages- und Nachtbereich, solche mit Korridor und eher klassischer Raumteilung und andere mit einem freien und offenen Grundriss, Wohnungen mit einem Rundlauf durch die Sanitärbereiche und andere mit einem doppelgeschossigen Wohnraum. Vielfalt ist hier oberstes Prinzip, denn Vielfalt bewahrt vor Homogenität: Unterschiedliche Wohnungstypen sprechen unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Lebensweisen an. «Helle, geräumige Wohnungen, ein Hof wie ein Dschungel, ein zweiter wie eine Landschaft, dazu ein Pool auf dem Dach – Schlieren ist nicht Hollywood, sondern dank unserer Architektur fast noch besser!», schwärmen Patrick Gmür und Michael Geschwentner auf der Homepage ihres Büros. Tatsächlich verbirgt sich von aussen unsichtbar oben auf dem Querriegel ein Pool mit holzbeplankten Liegeflächen. Der Freizeitbereich, der allen Bewohnerinnen und Bewohnern offensteht, ist umgeben von weissen Wänden aus Welleternit, ein Panoramafenster erlaubt den Blick auf den Rietpark tief unten und die Umgebung, doch vor allem geht des Sommers der Blick in den Himmel. Vielleicht vergisst man Schlieren, das Limmattal, die Schweiz, vielleicht erklingt in der nachmittäglichen Hitze von ferne eine Melodie, ein Lied, in dem es heisst: «Un giorno splendido perché / Ogni secondo bacio te.» Gelegenheit, sich zu treffen und kennenzulernen, hat man ja unten in der Halle genug. Die Architekten haben ihrem Projekt den Titel eines Songs von Adriano Celentano gegeben: «24 mila baci».

Grundriss 1. Obergeschoss: Zur Brandstrasse hin sind Büroflächen angeordnet. Sonst ist der Bau mit zehn Treppenhäusern dem Wohnen gewidmet.
Grundriss 3. Obergeschoss: Die Grösse der Wohnungen variiert zwischen 2,5 und 5,5 Zimmern. Nach Norden liegen Balkone, nach Süden Loggien.
Situation mit Grundriss Erdgeschoss: 24 mila baci liegt zwischen Brandstrasse und Rietpark. Gut ersichtlich: die Eingangshalle und die Anlage der Innenhöfe.
Querschnitt (oben) und Längsschnitt (unten): Die Hofräume zeichnen sich durch unterschiedliche Fassadengestaltungen aus. Der Pool liegt auf dem Querriegel.

Steib Gmür Geschwentner Kyburz Architekten & Stadtplaner

Das Zürcher Büro Steib Gmür Geschwentner Kyburz besteht in dieser Zusammensetzung seit Anfang 2020. Es hat seinen Ursprung in einem 1989 gegründeten Architekturbüro, das Patrick Gmür bis 1998 gemeinsam mit Regula Lüscher führte. 2005 wurde der langjährige Mitarbeiter Michael Geschwentner zum Mitinhaber und leitete es zwischen 2009 und 2016 in Eigenregie – Gmür war zu dieser Zeit Direktor des Amtes für Städtebau der Stadt Zürich. Mit dem selbstständig tätigen Jakob Steib verbindet beide eine lange Freundschaft, die zur Gründung wechselseitiger Doppelbüros (Gmür & Steib, Steib & Geschwentner) führte. Zur Vereinfachung erfolgte schliesslich der Zusammenschluss zu einem gemeinsamen Büro, wobei Steibs langjähriger Mitarbeiter Matthias Kyburz als vierter Partner hinzukam. Heute sind Steib Gmür Geschwentner Kyburz ein Team von 40 Personen. Das Büro widmet sich unterschiedlichen Bauaufgaben, wobei Wohnbauten von jeher einen Schwerpunkt darstellen. Bei vielen Projekten ist der Luzerner Künstler Peter Roesch als arbgestalter beteiligt.

www.sggk-arch.ch

Am Rietpark

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2021 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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