Von der Agglo zur Stadt

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Für die Schweiz ist ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum eine Realität, der wir uns stellen müssen. Deshalb hat die Raumplanung Voraussetzungen zu schaffen, dass genügend zusätzlicher Wohnraum entstehen kann – verbunden mit den Raumbedürfnissen der Wirtschaft und der notwendigen Infrastruktur. Damit dies in nachhaltiger Weise geschehen kann, sollten wir die Disziplinen der Stadtplanung und des Städtebaus wieder kultivieren und betreiben.

In den 50 Jahren von 1950 bis 2000 hat die Wohnbevölkerung der Schweiz um 2,5 Millionen auf 7,2 Millionen zugenommen. In den letzten 22 Jahren ist sie um weitere 1,7 Millionen auf ca. 8,9 Millionen angewachsen. Der Elefant steht im Raum. Da wird er wohl auch bleiben. Ohne Steuerung der Zuwanderung werden wir weiterhin ein Wachstum von ca. einem Prozent erleben; in gut zehn Jahren die 10-Millionen-Schweiz. Soll unter diesen Umständen die aktuelle Wohnungsknappheit nicht zur Wohnungsnot mutieren mit erheblichen gesellschaftlichen Spannungen, muss jährlich Wohnraum für zusätzlich 50 000 bis 60 000 Haushalte geschaffen werden. Weil dies nicht ohne Ersatzneubauten geschehen kann, werden gegen 80 000 neue Wohnungen zu erstellen sein und zusätzlich dazu Bauten für Arbeit, Dienstleistung, Versorgung und Infrastruktur.

Schlieren (ZH) und Umgebung 1880.
Schlieren (ZH) und Umgebung 1925.

Raumplanung, die den Namen verdient

Wachstum ist eine Realität, die man negieren oder in einer verantwortungsvollen Planung berücksichtigen kann. Verantwortungsvoll hiesse, auf zwei bis drei Generationen, d.h. auf 40 bis 60 Jahre hinaus, zu planen und Raum für 13 bis 15 Millionen Menschen vorzusehen. Dies kann geschehen, indem man im gesamten Siedlungsgebiet flächendeckend um 50 Prozent aufzont. Nachhaltiger ist jedoch eine polyzentrische Strategie, mit der in Entwicklungsschwerpunkten, an existierenden Verkehrsknotenpunkten die Dichten nicht nur erhöht, sondern vervielfacht werden. Im Vordergrund stehen die Transformation von bestimmten Agglomerationsräumen in Stadtlandschaften und die Stärkung peripherer Städte zu wirtschaftlichen Gravitationszentren. Die massive Nutzungserhöhung schafft die notwendige Dichte, Intensität und wirtschaftliche Dynamik, die vielfältige Angebote in den Bereichen Detailhandel, Dienstleistungen, Bildung, Kultur und Gesundheit entstehen und existieren lassen. Raumplanung, die zukünftiges Wachstum auf ein Netz von starken, gut versorgten Zentren konzentriert, reduziert den Druck auf Landschaften und schützenswerte Ortsbilder, dämmt zukünftige Mobilitätsbedürfnisse ein und senkt die Notwendigkeit von Ersatzneubauten auf ein Minimum.

Nicht ohne Paradigmenwechsel

Das allerdings setzt einen Paradigmenwechsel voraus gegenüber der Raumplanung, wie wir sie seit 60 Jahren mit dem Aufkommen der motorisierten Individualmobilität praktizieren. Die in der ganzen Schweiz vorherrschenden Bau- und Zonenordnungen mit generell-abstrakten Nutzungsziffern, Höhen und Abstandvorschriften, Terrainvorgaben und Drittelsregeln sind denkbar ungeeignet, attraktive Stadtquartiere zu schaffen. Auch das Regime der heute propagierten Sondernutzungsplanungen führt nicht zu überzeugenden, gesamtheitlichen Stadtstrukturen. Es braucht den parzellenübergreifenden Plan, der von den öffentlichen Räumen aus gedacht wird und aufzeigt, wie die Bauten zukünftig Strassen, Plätze, Parks und Promenaden umschliessen und bespielen. Die Dichte entsteht dabei, indem Häuser zusammengebaut werden und sich in die Höhe entwickeln können. Wir kennen viele gute Beispiele attraktiver Stadtquartiere in schweizerischen und europäischen Städten.

Stadtplanung ist ein schöpferischer Vorgang, der Inspiration, Kompetenz, vernetztes und strategisches Denken erfordert.

Übergeordnete Planungen sind in den aktuell gegebenen Siedlungsstrukturen zweifellos anspruchsvoll. Durch die Vervielfachung der Nutzungsmasse werden jedoch ökonomische Anreize geschaffen, die auch in eigentumsrechtlich fragmentierten Strukturen Transformationen befördern und dank erheblichen Mehrwertabgaben die Finanzierung der notwendigen öffentlichen Anlagen und Bauten ermöglichen.

Stadtplanung als gestalterischer Akt

Voraussetzung ist, dass wir wieder Stadtplanung betreiben, verstanden als eine auf lange Sicht über administrative Grenzen hinaus ausgerichtete Entwicklungsstrategie auf der Basis einer auch in die dritte Dimension formulierten Entwurfsvision. Stadtplanung ist ein schöpferischer Vorgang, der Inspiration, Kompetenz, vernetztes und strategisches Denken erfordert. Dass dies nicht von Planungsämtern, Ingenieur- oder Raumplanungsbüros geleistet werden kann, liegt auf der Hand. Dazu braucht es Städteplaner mit interdisziplinären Teams, die in öffentlichen Konkurrenzverfahren nicht nur die besten Lösungsansätze hervorbringen, sondern auch eine breite, weit in die Bevölkerung reichende Diskussion entfachen. Dies belebt das inzwischen verkümmertes Bewusstsein für guten Städtebau und fördert die notwendigen Kompetenzen in der Lehre, der Wirtschaft und den Verwaltungen.

Schlieren (ZH) und Umgebung 1970.
Schlieren (ZH) und Umgebung 2015.

Leadership und Partizipation

Heute werden Stadtplanung und Städtebau meist – wenn überhaupt – aus privater Initiative mittels Sondernutzungsplanungen angestossen und umgesetzt. Dass der daraus entstehende Inselurbanismus in der Gesamtsicht selten zu überzeugen vermag, ist nicht der Fehler der Bau- und Immobilienwirtschaft. Er ist das Resultat fehlender Leadership seitens der Exekutivpolitiker. Es läge in ihrer Verantwortung, Prozesse anzustossen, die strategische, qualitativ hochwertige und nachhaltige Planungen hervorbringen – übrigens nicht nur in der Stadt-, sondern auch in der Landschafts- und Ortsplanung.

Die höchste Stufe der Partizipation ist die direkte Demokratie. Einem Volksentscheid sollte ein klar strukturiertes, qualitätsförderndes, öffentlich geführtes Verfahren vorausgehen. Werden dabei die vielfältigen Anforderungen und die sich bisweilen widersprechenden Interessen diskutiert und gegeneinander abgewogen, hat er beste Chancen positiv auszufallen. Zur Einsprache legitimierte Interessengruppen sind rechtsverbindlich in das Verfahren einzubinden, damit die für die Umsetzung notwendige Rechtssicherheit geschaffen und langwierige Beschwerdeverfahren verhindert werden.

Dieser Beitrag stammt aus der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine vom 22. Mai 2023.