Schlichte Hülle, glänzender Kern
An prominenter Lage in Zürich, an der Ecke Bahnhofstrasse / Kuttelgasse, hat die für Umbauprojekte solcher Art bekannte Architektin Tilla Theus die Sanierung zweier Häuser geplant. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbunden, liegen diese an der Grenze von Altstadt und Einkaufsmeile – da, wo früher die Stadtmauer samt Graben verlief.
Die Bündner Architektin Tilla Theus ist bekannt für Luxus und Eleganz. In den 1990er Jahren berühmt geworden durch den Umbau des Fünfsternehotels Widder (1985–1995), zeigte sie damals bereits ihr Können bei sensiblen Eingriffen im historischen Bestand der Alt stadtquartiere. Seither ist Tilla Theus zur Ikone geworden, vor allem, wenn es sich um Projekte handelt, bei denen das Alte in neuem Glanz erstrahlen soll. Kein Wunder also, dass sich an der hochpreisigen Bahnhofstrasse in Zürich bereits fünf ihrer unzähligen Umbauprojekte verorten lassen, darunter auch der berühmte Leuenhof mit extravaganter Erdbebenertüchtigung im Innenhof – eine beeindruckende und durchaus kunstvolle Konstruktion, durch die in den Innenräumen der nötige Freiraum bestehen bleibt.
Das Team um Tilla Theus macht mit aussergewöhnlichen Ideen auf sich aufmerksam und hat die Gabe, gegenwärtige Herausforderungen in zeitlose Entwürfe zu übersetzen. Während andere Architekturschaffende auf Gradlinigkeit und Einfachheit setzen, macht sich Tilla Theus einen Namen durch Opulenz, Ornamentik und eine vielfältige wie ebenso vielfarbige Gestaltung. Ein Besuch ihrer Architektur ist ein Erlebnis, die Atmosphäre ist jeweils unverkennbar.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Bauherrin RFR Holding das anspruchsvolle Umbauprojekt für die 2019 erworbenen, nebeneinanderliegenden Häuser Bahnhofstrasse 52 und Kuttelgasse 10 nach einem Wettbewerb an Tilla Theus vergab. Auch RFR ist im Hochpreissegment zu Hause. Die aus Deutschland stammende Investorengruppe hält unter anderem das berühmte Seagram Building von Mies van der Rohe und das Chrysler Building in New York in ihrem Portfolio. Für die Halter AG, die als Totalunternehmerin alle Beteiligten an einen Tisch bringt, ist das neue Projekt in Zürich eine «nicht alltägliche Referenz», so Anna von Sydow, Geschäftsführerin von Halter Renovationen. «Seine besondere Lage, die konstruktiven wie auch technischen Ansprüche des Bestands und eine umfangreiche Organisation machen das Vorhaben zu einer komplexen Angelegenheit», betont sie. Eine Herausforderung, der sich Halter und das Team um Tilla Theus gemeinsam stellen.
Vom Fröschengraben zur Bahnhofstrasse
Die Bahnhofstrasse zählt zu einer der teuersten und exklusivsten Einkaufsstrassen der Welt. Jedoch war sie nicht immer eine Luxusmeile, sondern bis in die 1880er-Jahre Stadtgraben von Zürich. Mit einer Länge von 1,4 Kilometern reichte der ehemalige Fröschengraben vom Zürichsee bis zum Hauptbahnhof, der 1847 als zentraler Knotenpunkt für Züge aus dem In und Ausland errichtet wurde. Um den Bahnhof mit den Stadtteilen rund um den Paradeplatz zu verbinden, begann man 1864 mit dem Bau der Bahnhofstrasse nach Vorbild der damals neu geplanten Pariser Boulevards von Georges-Eugène Haussmann. Der Fröschengraben, der seit Zürichs Gründung der alten westlichen Stadtmauer vorgelagert war, wurde dafür gänzlich eingedeckt.
Im Zuge der Bebauung an der neu angelegten Bahnhofstrasse wurde in den 1880er-Jahren an der Ecke Kuttelgasse ein palastähnliches Gebäude im italienischen Renaissancestil erstellt. 1908 zog hier die Firma E. Spinner & Cie. ein, die in ihrem «Seiden-Haus» mehr als 200 Mitarbeitende beschäftigte und in den Räumen eindrucksvolle Modenschauen veranstalten liess. Seither heisst das Gebäude im Zürcher Volksmund «Spinnerhaus». In der Folge eines Eigentümerwechsels Ende 1920er-Jahre ging die Liegenschaft an die Firma Pieper & Co. über, die 1929 ein Gesuch für ein Umbauprojekt für ihre neue Geschäfts stelle bei der Baubehörde Zürich einreichte. Das Architekturbüro Stettler Ammann Herrigel setzte auf einen purifizierenden Eingriff, «aus dem ein den Forderungen unserer Zeit entsprechendes Projekt hervorgegangen ist», so die «Neue Zürcher Zeitung» am 20. Juli 1930. Diesem fiel unter anderem die reich verzierte Fassade und ein runder Erker zum Opfer, der früher die Ecksituation Bahnhofstrasse / Kuttelgasse prägte.
Der Umbau ist das Resultat einer Zeit, in der man Ornament und Dekoration verurteilte. Einfachheit, Gradlinigkeit und helle Räume sollten die Architektur prägen. Von dieser Umbauphase 1929/30 ist das Gebäudepaar bis heute am sichtbarsten geprägt.
Bauarbeiten nach Mass
Historische Pläne verweisen auf die Lage der Stadtmauer quer durch die beiden Häuser an der Bahnhofstrasse 52 und der Kuttelgasse 10, denen sich Tilla Theus mit ihrem Team widmet. Das Haus an der Kuttelgasse ist seit seiner Entstehung Teil der Altstadt und muss demnach anderen baurechtlichen Anforderungen folgen als der Gebäudeteil an der Bahnhofstrasse.
Gegenwärtig ist die gesamte Liegenschaft eingerüstet. An der Fassade zur Kuttelgasse lassen sich die Häusergrenzen von aussen jedoch klar erkennen: Eine vertikale Gliederung zeigt die historische Trennung der beiden Gebäude. Dabei fällt auf, dass das Haus an der Kuttelgasse niedriger ist. Die Bahnhofstrasse 52 glich man bei ihrer Erbauung mit zwei zusätzlichen Geschossen in der Höhe dem Fassadenbild des neuen Boulevards an. Das Team um Tilla Theus wird die gegenwärtige äussere Erscheinung bewahren; lediglich die Oberflächen der unterschiedlich ausgestalteten Fassaden (Kunststein, Sandstein, Putz) sollen gereinigt werden. Die Fenster jedoch, die in den 1990er-Jahren ersetzt wurden, wird man zurückbauen. So kann ein Teil des ursprünglichen Fassadenbilds an der his torischen Kuttelgasse durch Holzfenster mit Sprossen wiederhergestellt werden.
Nicht nur mit diesem Eingriff wird denkmalpflegerischen Auflagen entsprochen, auch andere Interventionen unterliegen strengen Vorschriften. So sind etwa alte Hourdisdecken auf Stahlträgern in der Liegenschaft an der Bahnhofstrasse erhaltenswert. An der Kuttelgasse steht neben weiteren Elementen das Treppenhaus unter besonderem Schutz. Hier will Tilla Theus die historische Substanz unter Einsatz spezieller Materialien und Farben zu neuem Leben erwecken. Ansonsten wird das gemeinsame Innere der beiden Häuser komplett entkernt. Dies ist nötig, um die heutigen gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen und auch weil durch Bauarbeiten in den 1990er-Jahren viel Substanz zerstört und ersetzt wurde. «Die grosse Herausforderung ergibt sich vor allem durch die Ansammlung unterschiedlicher Zeitschichten und Bautechniken», erklärt Björn Missbichler, Bauleiter bei Halter Renovationen und vor Ort verantwortlich für den Umbau.
Flexibilität im Ausbau
Vom Untergeschoss ausgehend, wird im Gebäude komplex in den nächsten Monaten ein geräumiger Retailbereich auf drei Etagen entstehen. Das gesamte Erdgeschoss und das 1. Obergeschoss sollen mit grossen Fensterflächen zur Bahnhofstrasse hin geöffnet werden. Auf den drei respektive fünf Ebenen darüber sind weitere Gewerbeflächen und Büros geplant. Im Hausteil an der Kuttelgasse soll die bestehende Dachwohnung gemäss Auflagen saniert werden. Grosse Dachterrassen in den obersten Geschossen beider Häuser bieten den neuen Nutzern einen einzigartigen Blick über das Stadtzentrum von Zürich. Für die Erschliessung der einzelnen Geschosse wurde das zentrale Haupttreppenhaus der Liegenschaft an der Bahnhofstrasse, das zudem nun der Aussteifung und Erdbebenertüchtigung dient, an seine ursprüngliche Stelle zurück versetzt – nachdem es in den 1990er-Jahren weiter nach vorne, in Richtung Fassade verschoben worden war. So gewinnen die Flächen der verschiedenen Geschosse mehr Flexibilität, um unterschiedlich genutzt und bespielt zu werden.
Tilla Theus und ihr Team stellen mit dem Projekt die Grundausstattung für weitere zukünftige Nutzungen, indem sie die Bausubstanz in Hinblick auf statische und energetische Anforderungen mit Sorgfalt erneuern. Dabei setzen sie auf Flexibilität – so kann beispielsweise der Retailbereich mit sich ändernden Ansprüchen jederzeit geteilt und getrennt genutzt werden. Die ursprüngliche Aufteilung in zwei Häuser spielt dem in die Hände, da so jeweils ein Zugang von der Strassenseite sowie eine vertikale Erschliessung über die beiden Treppenhäuser gewährleistet ist.
Durch schwerwiegende Eingriffe in den Jahren 1929 und 1930 sowie mehrere darauffolgende Umbauten verloren das Haus an der Kuttelgasse und vor allem der ursprünglich palastähnliche Bau im italienischen Renaissancestil an der Bahnhofstrasse ihre städtebauliche Präsenz. Mit der Sanierung durch Tilla Theus soll sie der Bausubstanz wiedergegeben werden. Auch wenn die Hülle im Vergleich zur Anmutung der Nachbarbauten unscheinbar und zurückhaltend bleibt, wird das qualitativ hochwertig ausgebaute Innere nach Fertigstellung dazu beitragen, dass die Häuser ihre Wirkung an einer der exklusivsten Strassen der Welt zurückerlangen.
Tilla Theus und Partner AG
Die in Chur geborene Tilla Theus studierte an der ETH Zürich und schloss 1969 mit dem Diplom ab. Danach arbeitete sie in einer Architektengemeinschaft und gründete 1985 ihr eigenes Büro Tilla Theus und Partner. Von 1974 bis 2006 sass die Architektin in der Denkmalpflegekommission des Kantons Zürich, von 1981 bis 1993 in der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. Zu ihren herausragenden Projekten gehören der Umbau des Hotels Widder (1988–1995), der Neubau des Fifa-Hauptquartiers (2003–2006) und der Umbau des Leuenhofs (2016–2022), alle in Zürich. Zurzeit arbeitet sie mit fünfzehn Mitarbeitenden an zahlreichen Projekten. Das Büro ist spezialisiert auf Neubauten im anspruchsvollen städtebaulichen Kontext, eine einzigartige innenarchitektonische Gestaltung sowie sorgfältige Umbauprojekte und Sanierungen von geschützter historischer Substanz. Tilla Theus machte sich so über die Grenzen der Schweiz hinaus einen Namen und ist zu einer der bekanntesten Architektinnen der Gegenwart geworden. → www.tillatheus.ch
Tilla Theus: Was interessiert und inspiriert Sie am Bauen im Bestand?
Komplex: Mir ging es nie darum, einfach nur meine eigenen Ideen auf der grünen Wiese zu verwirklichen. Vielmehr interessierte mich schon immer der Dialog zwischen dem früher Gedachten und dem Weiterentwickeln in die Zukunft.
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie und Ihr Team dabei?
Es geht darum, die Seele des Gebäudes zu erkunden und die Haltung der Architekten, die es erstellt haben, zu verstehen. Wie eine Detektivin studiere ich den Bestand bis in den hintersten Winkel und kann so erkennen, welche Veränderungen das Gebäude akzeptiert und welche es nicht zulässt. Es geht mir um ein positives Weiterbauen, bei welchem mit dem Altbestand gerechnet und dieser eventuell neu interpretiert wird.
Mit welchem Augenmass setzen Sie energetische Massnahmen unter dem Druck der Klimakrise um?
Bauen im Bestand und energetische Sanierung schliessen sich nicht aus. So sollte beispielsweise nach dem Zwiebelprinzip in mehreren dünnen Schichten gedacht werden, anstatt mit einer dicken, einschichtigen Massnahme das Gebäude zum Ersticken zu bringen. Herausfordernd sind aber nicht nur energetische Vorgaben, sondern auch der Erdbebenschutz. Statische Verstärkungen können das Wesen eines bestehenden Baus zerstören. Beim Leuenhof verlagerten wir die Erdbebensicherung des halb in den Innenhof, was sich nun wie Kunst am Bau anfühlt.
Wo machen Luxussanierungen heut zutage überhaupt noch Sinn?
Luxus allein ist eine sinnfreie Hülle. Jede Sanierung muss zwingend einen nachhaltigen Mehrwert generieren – wirtschaftlich, ökologisch und ästhetisch. Es ist wie bei den Menschen: Ein Gebäude muss sich stets weiterentwickeln, der Zeit anpassen und überraschen.
Wie können Sie mit Ihrer Arbeit zur Verdichtung beitragen?
Verdichten heisst mehr Nutzung generieren. Das kann im Bestand durch intelligente Grundrisse geschehen oder auch durch Ergänzungen im Horizontalen oder Vertikalen, vielleicht zukünftig sogar unterirdisch mit bepflanzten und farbig gefassten Lichthöfen.
Was sind die Argumente für einen Ersatzneubau?
Auch ein Ersatzneubau kann interessant und sorgfältig gestaltet werden und Neues möglich machen. Wenn die bestehende Substanz zu wenig hergibt, ist ein Ersatzbau die richtige Antwort. Beim Gemeindehaus in Unterengstringen oder beim Haus Wolf in Muri haben wir beispielsweise diesen Weg gewählt.
Im Gegensatz zur meist schlichten Schweizer Architektur setzen Sie auf Opulenz. Wie verorten Sie sich im Architekturdiskurs?
Ich habe in der Fünfsternehotellerie mit dem Umbau des Hotels Widder einen neuen Trend der Authentizität und Echtheit gesetzt. Meine Haltung wurde von meinen Kolleginnen und Kollegen zunächst belächelt, denn es war die Zeit der Schweizer Kiste. Sie gab den Ton an in der Architekturbranche. Für ein Hotel war unser Ansatz damals allerdings umwälzend neu. Auch heute – 38 Jahre nach dem Planungsbeginn – begeistert diese Haltung noch immer.
Welches sind Ihre Vorzeigeprojekte?
Alle – es ist vor allem die Vielfalt, die mir gefällt.
Wie gelingt es Ihnen, mit Ihren Entwürfen einzigartige Atmosphären zu schaffen?
Ich versuche, Gebäude als Ganzes zu erfassen, mache keinen Unterschied zwischen repräsentativen und sogenannt weniger wichtigen Räumen, unterscheide nicht zwischen Architektur, technischer Sanierung und Innenarchitektur. Alles muss aus einem Guss sein und demselben Prinzip folgen. Das ist ein langer, intensiver Prozess: harte Gedankenarbeit, viele Versuche, diverse Materialbemusterungen und deren Verarbeitung sowie natürlich der diskursive Austausch mit meinem Team.
Denken Sie in Ihrer Arbeit lange nach, oder vertrauen Sie eher Ihrer Intuition?
Es muss beides Platz haben. Oft wird nach einer langen Suche und intensivem Denken der Schlüssel intuitiv gefunden.
Welche anderen Lektionen haben Sie in Ihrer langen Karriere als Architektin gelernt?
Viele Wege führen nach Rom. Dabei ist es wichtig, Geduld zu haben.
Welchen Rat würden Sie jungen Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben?
Freue dich auf deine Zukunft, und arbeite hart! Der Weg ist steinig, aber schenkt unendlich viel Freude, wenn das Resultat vor uns steht. Um die eigene gebaute Vision erleben zu dürfen, lohnt sich die grosse Mühe.