Open API oder von Lego lernen

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Stefan Zanetti
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Dominique Wyss

Digitalisierung. Sie können das Wort auch nicht mehr hören? Damit sind Sie nicht allein.

An der Messe IMMO22 Anfang des Jahres in Zürich liessen sich unter anderem folgende Voten von Geschäftsführerinnen, Geschäftsführern und Geschäftsleitungsmitgliedern renommierter Immobilienunternehmen vernehmen: «Mindestens einmal pro Tag erhalte ich eine Mail von einem Prop- Tech-Unternehmen, das mir vorschlägt zu kooperieren.» – «Ich habe gar keine Ahnung, was ich aus der Vielzahl digitaler Lösungen überhaupt noch auswählen soll.» – «Wir wollten eigentlich die Effizienz steigern, aber heute haben wir in unserem Haus noch mehr manuelle Schnittstellen als zuvor.»

Die Digitalisierung ist, das darf man behaupten, nun auch in der Immobilienbranche voll angekommen – zwar mit einigen Jahren Verspätung, aber zweifellos präsent. Corona hat das Seine dazu beigetragen: Selbst die letzten Kollegen, die noch meinten, es würde sich für sie auch in den nächsten 50 Jahren nichts verändern, haben unterdessen gelernt, dass der Austausch zwischen Menschen und Unternehmen heute primär digital stattfindet.

Gleichzeitig macht sich Müdigkeit breit: Wo ab Mitte des letzten Jahrzehnts noch ein regelrechter Hype rund um die Digitalisierung zelebriert wurde, tritt nun Ernüchterung ein. Für jeden Prozessschritt sind inzwischen gute Einzellösungen vorhanden. Viel verändert hat sich trotzdem nicht. Oder sind heutige Immobiliennutzer einfach zufriedener geworden? Liessen sich die Effizienzversprechen in der Immobilienentwicklung oder im Betrieb für die Eigentümer effektiv realisieren? Haben wir umfassende Transparenz über das Geschehen in Immobilien – beispielsweise über Verbräuche – erreicht? In den meisten Fällen leider nicht.

Der Einzug digitaler Technologien in Branchen erfolgt typischerweise in einem Phasenmodell: Beim ersten Durchgang werden bestehende Prozesse und Geschäftsmodelle digital verbessert. Schon der Begriff Digitalisierung signalisiert, dass es sich dabei um eine Aktivität «an etwas» handelt; «etwas Bestehendes» wird neu digital gemacht. So wie man eine bestehende Wohnung sanieren kann, digitalisiert man nun Prozesse, Unternehmen, die Kommunikation – mit wem auch immer. Das Resultat: Eine Wohnung bleibt eine Wohnung, auch wenn sie saniert ist; ein Prozess bleibt ein Prozess, auch wenn er jetzt digital verläuft. Mit der Digitalisierung lassen sich Effizienzgewinne innerhalb einer bestehenden Welt realisieren. Aber grundlegende Ineffizienzen in Industrie-Architekturen werden nicht beseitigt; und komplett neue Geschäftsmodelle entstehen schon gar nicht.

In der stark fragmentierten Immobilienwirtschaft zeigt sich folglich: In Europa stehen über 3000 PropTech-Lösungen und mindestens ebenso viele etablierte Anbieter bereit, um Effizienzgewinne in einzelnen Fragmenten der Immobilienindustrie zu erzielen. Das hat uns unzählige Insellösungen in vielen einzelnen Silos gebracht, und statt weniger sind noch mehr Medienbrüche entstanden.

Stefan Zanetti (50), Gründer und Verwaltungsratspräsident der Allthings Technologies AG, ist eine der prägenden Figuren der PropTech-Szene in Europa. Fasziniert von der Entwicklung neuer Dinge und Dienstleistungen, gründete er im Jahr 2013 Allthings, sein drittes ETH-Spin-off nach Synesix und Careware. Mit der inzwischen führenden Integrations- und Mietermanagementplattform für Immobilieneigentümer und Bestandshalter kombinierte er seine Begeisterung für Kundeninteraktionsdesign, Risiko- und Nachhaltigkeitsmanagement mit seiner Leidenschaft für neue Technologien und Software.

In der Bankenwelt hielt die Digitalisierung schon vor 20 Jahren Einzug

Kein Wunder, macht sich Frustration breit. Glücklicherweise befinden wir uns aber erst in Phase 1. Besserung ist in Sicht, und statt zu resignieren, lohnt sich an dieser Stelle ein Blick in andere Branchen. Beispielsweise in die Bankenwelt. Dort hat die Digitalisierung bereits vor 20 Jahren Einzug gehalten. Das kann man gut daran ablesen, dass wir es als Bankkunden schon lange gewohnt sind, mit Banken unsere Alltagsinteraktionen rein digital über eine Applikation, ein Portal oder einen Automaten abzuwickeln oder Dokumente und Saldi einzusehen. Mittlerweile ist es sogar so, dass wir extra dafür bezahlen müssen, wenn wir beispielsweise einen Kontoauszug auf Papier haben möchten.

Auch bei den Banken ging es in der ersten Phase des Einzugs digitaler Technologien um Effizienzsteigerungen in bestehenden Prozessen innerhalb grosser Silos. Dann aber setzte Phase 2 ein: Open Banking war die logische Fortsetzung der Digitalisierung. Open Banking beschreibt eine Entwicklung, durch die vormals geschlossene Systemwelten innerhalb eines Bankinstituts geöffnet werden, damit interne Systeme automatisiert Daten mit Anwendungen anderer Anbieter austauschen können – natürlich unter Einhaltung aller Datenschutzregeln und mit dem Einverständnis der Kunden. Beispielsweise wurde es dadurch möglich, dass eine neue Klasse von Anbietern die Konsolidierung aller bei unterschiedlichen Banken lagernden Guthaben – also ein Gesamtvermögen – digital automatisiert darstellen kann.

Möglich wird dies, wenn Software so gebaut wird, dass sie sich über allgemein akzeptierte Prinzipien einfach mit anderen Anwendungen verknüpfen lässt. Verknüpfen heisst hier: Daten standardisiert und in Echtzeit austauschen und Prozesse in anderen Anwendungen anstossen. In der Software-Welt wird von sogenannten Application Programming Interfaces (APIs) gesprochen. Es geht dabei nicht einfach nur um den Download von Daten in Form von Excel oder CSV und das Hochladen derselben in ein anderes System «über Nacht», was noch allzu oft als «Schnittstelle» verstanden wird. Ziel in einer API-Welt ist es, dass einzelne Systeme direkt Prozesse in anderen Systemen anstossen können. Beispielsweise so, dass eine Mieterplattform aus der Schadensmeldung eines Bewohners direkt einen Auftrag in einem nachgelagerten System eines Bewirtschafters oder Handwerkers anlegen und Folgeprozesse auslösen kann, ohne dass ein Mitarbeitender des Bewirtschafters die Daten zwischen einzelnen Anwendungen hin- und herkopieren muss.

Von der Digitalisierung zur «Legoisierung»

Vereinfacht kann man sich das so wie bei Lego vorstellen: Das Wichtigste an Legosteinen sind die Noppen. Wer Lego kauft, der weiss, dass er sich keine Gedanken machen muss, ob die Steine zusammenpassen. Gelb, Rot, Grün, Blau, gerade oder schräg – es ist komplett egal, wie ein Stein aussieht. Alles greift dank der wohlbekannten Noppen problemlos ineinander.

APIs sind die Noppen der Software-Welt. Und um im Bild der «Legoisierung» zu bleiben: Sind die Noppen standardisiert, können die schönsten neuen Gebilde gebaut werden. Genau so sind mit der Open-Banking-Bewegung zum Nutzen der Kunden viele neue Geschäftsmodelle entstanden – wobei schon lange ineffiziente Geschäftsmodelle unter Druck gerieten. Nicht umsonst sagt die Schweizerische Bankiervereinigung: «Open Banking […] wird die Bankenbranche nachhaltig beeinflussen und verändern. Die Schweizerische Bankiervereinigung sieht darin grosses Potenzial für den Finanzplatz.»

Der Bedarf an Open APIs und einer entsprechenden «Open Real Estate»-Bewegung ist offensichtlich. Die massiven Aufgaben im Nachhaltigkeitsbereich oder die Entwicklung hin zu einer Kreislaufwirtschaft kommen gar nicht ohne durchgängige Datenverfügbarkeit aus. Aber auch Nutzerinnen und Nutzer von Immobilien werden massiv davon profitieren, dass die verschiedenen technischen Systeme miteinander verbunden werden können. Und nicht zuletzt werden die anfangs erwähnten Fachleute aus der Immobilienwirtschaft weniger verloren sein, wenn sie wissen, dass ihre Systeme ineinandergreifen.

Im Banking-Umfeld war die Entwicklung in Richtung offene Schnittstellen regulatorisch unterstützt, was die Wichtigkeit der Öffnung von geschlossenen Systemwelten sogar aus Sicht des Regulators zeigt. Beispielsweise hat die Payment Services Directive 2 (PSD2) massgeblich die Entwicklung zu Open APIs forciert, damit Nutzer ihre Kontodaten über unterschiedliche Systeme konsolidieren können. Im Immobilienumfeld ist ein solcher regulatorischer Druck nicht sichtbar, aber vielleicht auch nicht nötig.

Was braucht es im Kern, um eine offene Software-Welt entstehen zu lassen? Eigentlich erstaunlich wenig. Was Open APIs sind, ist Software-Entwicklern längst bekannt. Es lässt sich mit ein paar Sätzen beschreiben. Auf der Fachseite der Anbieter haben wir also kein Verständnisproblem. Hingegen müssen auf der Bestellerseite Open APIs zum fixen Bestandteil jeder Ausschreibung werden, um die Immobilienbranche Schritt für Schritt in eine offenere Welt zu bewegen. Und falls die Bestellerkompetenz nicht vorhanden ist, lässt sie sich einkaufen oder gar zentral über Branchenorganisationen aufbereiten. Denn klar ist: Wird eine offene Schnittstellenorientierung zum wichtigsten Kriterium jeder Systembeschaffung, stellt sich die Welt der Anbieter automatisch darauf ein – oder sortiert sich selbst aus.

Lassen Sie uns also nach sieben Jahren der Digitalisierung für die nächsten sieben Jahre das «Zeitalter der Legoisierung» in der Immobilienwirtschaft ausrufen! Damit es am Ende dieses Jahrzehnts normal sein wird, dass Immobilieneigentümer und -dienstleister einzelne Software-Bausteine nach ihren individuellen Präferenzen beschaffen und sie sich dank vorhandener Noppen in Form von APIs überhaupt keine Gedanken mehr machen müssen, ob diese Bausteine zu einem grossen, schönen Ganzen zusammengesteckt werden können.

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2022 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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