Neue Räume für ein gemeinschaftliches Leben
Seit über 170 Jahren ist der Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz in Ingenbohl oberhalb von Brunnen zu Hause. Nun wurde die Klosteranlage mit einem siebengeschossigen Alterszentrum von Boltshauser Architekten aus Zürich ergänzt.
Wie eine Zunge schiebt sich bei Ingenbohl ein Hügelzug in die Talebene zwischen Schwyz und Brunnen. Darauf sticht seit Kurzem ein siebengeschossiger Neubau ins Auge. Das von Boltshauser Architekten entworfene Gebäude dient als Alterszentrum und ist Teil des Mutterhauses der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz – im Volksmund Ingenbohler Schwestern genannt –, die seit 1855 hier leben. Die ersten von ihnen zogen vor gut 170 Jahren in ein Bauernhaus, das der Kapuzinerpater Theodosius Florentini, der Gründer des Ordens, auf dem Hügel gekauft hatte. Aus der einfachen Unterkunft entwickelte sich über die Jahrzehnte hinweg eine Klosteranlage, die zu grossen Teilen zwischen 1969 und 1975 neu erstellt wurde. Dazu gehört auch die bekannte, vom Architekten Karl Higi entworfene Kirche im Béton-Brut-Stil. Ergänzt wird das Ensemble vom Schulgebäude des Theresianums, das um die vorletzte Jahrhundertwende entstand.
Die Barmherzigen Schwestern sind weltweit an einem guten Dutzend Standorten tätig, und wie von anderen Orden bekannt, ist auch ihre Gemeinschaft in Ingenbohl zunehmend überaltert. Entsprechend grosse Bedeutung hat das ordenseigene Altersheim. Das bisher dafür genutzte Gebäude an der Westkante des Hügelzugs genügte nach über achtzig Jahren Betrieb den heutigen Anforderungen nicht mehr. Abklärungen zeigten, dass ein Ersatzneubau die sinnvollste Lösung wäre. Deshalb führte das Institut Ingenbohl, dem alle Klosterbauten gehören, 2018 einen Architekturwettbewerb mit fünf Teams durch. Das Projekt von Boltshauser Architekten aus Zürich überzeugte dabei die Jury am meisten.
Die Umsetzung des siegreichen Projekts erfolgte im Rahmen eines Totalunternehmerauftrags, den Halter Gesamtleistungen für sich entscheiden konnte. Dem Wettbewerb vorangegangen war ein Masterplan für die Weiterentwicklung des Klosterareals. Dieser sieht unter anderem eine Parkanlage auf dem Hochplateau und neue Erschliessungsachsen vor, damit die Fahrzeuge der Besucherinnen und Besucher am Hügelfuss parkiert werden können. Der Wettbewerb liess den Planerteams grosse Freiheit bei der Form und der Platzierung des Neubaus. Für das Gebäude mit 78 Zimmern konnte ein rund 120 Meter langer Geländestreifen an der Ostkante des Hügels genutzt werden.
Bauen in die Höhe schafft Durchblick
Im Gegensatz zu anderen Entwürfen schlug das Siegerprojekt von Boltshauser Architekten keinen lang gezogen, niedrigen Baukörper parallel zur Hangkante vor, sondern fasst die Nutzungen kompakt in einem punktförmigen hohen Haus mit fast quadratischem Grundriss zusammen. Dieses ragt vom Klosterplateau aus sieben Stockwerke gen Himmel. Dazu kommen vier teilweise im Hügel versenkte Untergeschosse. Durch das Bauen in die Höhe konnten die Architekten einerseits zusätzliche Fläche für die Parkanlage freispielen, andererseits wird das Hügelplateau optisch durchlässig, da die östliche Hangkante nicht durch ein langes Gebäude verstellt ist.
Der Baukörper des Alterszentrums wurde sehr präzis auf dem Grundstück positioniert: Den passenden Standort schufen die Architekten gleich selbst. Dazu verbanden sie zwei an der östlichen Hangkante vorhandene Klostermauern und stellten das Gebäude auf die so entstandene neue Mauerkrone. In der Mauer selbst sind zwei der vier unter dem Niveau des Hügelplateaus befindlichen Geschosse des Neubaus integriert. Diese bieten unter anderem Platz für die Küche sowie für Technik- und Serviceräume. Die zwei eigentlichen Kellergeschosse – inklusive Zugang vom Parkplatz am Hügelfuss – befinden sich ganz unter der Erde.
Die Fassade der zwei sichtbaren Untergeschosse wurde komplett in sägeroh geschaltem Sichtbeton gehalten. Durch seinen rohen Charakter fügt sich dieser Bereich wie selbstverständlich zwischen die angrenzenden alten Mauerstücke ein. Gleichzeitig scheint das Gebäude von den Untergeschossen losgelöst auf der Mauer zu stehen. Der Standort des Neubaus orientiert sich aber nicht nur an der Hangkante und der Mauer, sondern auch an den benachbarten Bauten, der Klosterkirche und dem Exerzitienhaus. Zusammen spannen die drei Gebäude einen Vorplatz auf, an dessen Südende sich der Hauptzugang zum Alterszentrum befindet.
Vertikale Gliederung nach italienischem Vorbild
Sichtbeton in unterschiedlichen Ausformulierungen ist eines der prägenden Materialien bei der äusseren Gestaltung. Damit schafft der Neubau einen weiteren Bezug zu den Bestandsbauten auf dem Klosterhügel, interpretiert das Material aber zeitgemäss. Strukturiert werden die Fassaden durch ein Raster aus sichtbaren Stützen sowie Decken- und Balkonplatten, welche die Kraftflüsse im Gebäude nachzeichnen. Ein wesentliches Element der Nord- und Südseite des Gebäudes sind die je zwei über alle Geschosse laufenden Wandscheiben aus gezackt gestampftem Trasskalk. Sie verleihen den beiden Fassaden durch ihre Struktur und den abwechselnden Rhythmus von stark und weniger stark verdichteten Materialschichten eine ausgeprägte Lebendigkeit sowie eine materialspezifische, grünlich graue Farbigkeit. Der gestampfte Trasskalk ist hier eine nachhaltige Alternative zum klassischen Sichtbeton im Fassadenbereich: Die Zugabe von Kalk und Trass – einem vulkanischen Tuffgestein – reduziert den Zementbedarf um die Hälfte und verbessert so auch die CO₂-Bilanz erheblich. Ebenso wichtig für die Gesamterscheinung der Fassade ist das vorvergraute Holz für Fenster und Ausfachungen. Dieses setzt einen angenehmen Kontrapunkt zum eher kühlen Sichtbeton.
Die geschickte Kombination der Fassadenmaterialien unterstützt auf der Ost- und der Westseite die vertikale Gliederung des Alterszentrums: Mit einem öffentlich genutzten überhohen Sockelgeschoss, einem halbprivaten Piano nobile, gefolgt von fünf privaten Geschossen mit den Alters- und Pflegezimmern sowie dem optisch klar ausgebildeten Dachabschluss erinnert es unter anderem an klassische italienische Palazzobauten. Im Erdgeschoss springen die Fassaden hinter dem Stützenraster zurück. Die beiden so entstehenden Arkaden geben dem Sockelbereich besondere Bedeutung. Im Piano nobile treten die ausgefachten Felder nach vorne in die Ebene des Fassadenrasters, in den fünf Wohngeschossen bilden die Stützen und Deckenplatten eingezogene Balkone, den Dachrand akzentuiert ein breites Sichtbetonband. Das Fassadenbild auf der Nordseite wird durch den leicht zurückspringenden Haupteingang dominiert, jenes auf der Südseite durch die Fenster der Kapelle, die über zwei Geschosse reichen.
Hybrid genutzte Zimmer
Nach Süden und Norden hin ausgebildete Erker sowie viel Aufmerksamkeit für die Grundrisse waren nötig, um das geforderte Raumprogramm im kompakten Gebäudevolumen unterbringen zu können. So wurden in Absprache mit der Bauherrschaft beispielsweise die Grössen der Zimmer optimiert. Dabei kam den Architekten entgegen, dass es die Schwestern gewohnt sind, über relativ wenig private Wohnfläche und so gut wie kein persönliches Besitztum zu verfügen. Die Feinarbeit mündete schliesslich in eine klare und effiziente Grundrissstruktur. Diese besteht aus einem Gebäudekern mit Sekundärräumen, Treppenhäusern und Liftanlagen sowie einem rundum laufenden Korridor – ergänzt durch eine zusätzliche Querverbindung von Ost nach West, die im Arbeitsalltag des Pflegepersonals für kurze Wege sorgt. An den Korridor docken in den fünf Wohngeschossen auf drei Seiten die privaten Zimmer sowie nach Süden ein Aufenthaltsbereich an. Je sechs Zimmer pro Stockwerk sind nach Osten sowie acht nach Westen ausgerichtet und bieten entweder Aussicht auf die Mythen oder den Vierwaldstättersee. Zwei Zimmer liegen nach Norden und blicken auf die Mythen und die Klosterkirche. Die privaten Räume bieten eine Fläche von 18 bis 20 Quadratmeter sowie ein eigenes Bad. Je nach Gesundheitszustand der Bewohnerinnen ist das Zimmer ein Wohnraum oder aber ein Pflegebereich. Speziell darauf ausgerichtet sind die Möblierung, die Beleuchtung und die Sicherheitseinrichtungen: Das Bett beispielsweise kann ebenso parallel zur Wand als auch quer dazu platziert werden, um auf den unterschiedlichen Pflegeaufwand zu reagieren.
Erlebnisraum Treppenhaus
Die wohnliche Gestaltung der Zimmer setzt sich in den Korridoren, den Aufenthaltsbereichen sowie den öffentlichen und halbprivaten Räumen im Erdund im ersten Obergeschoss fort. Auf dieser Etage sind Therapieräume sowie ein Mehrzwecksaal untergebracht, im Erdgeschoss der Speisesaal, Büros, ein Coiffeursalon und die Kapelle. Letztere verströmt durch ihre Wände aus Trasskalk und die nach Süden orientierten Fenster aus unebenem und dadurch undurchsichtigem Muranoglas eine kontemplative und sakrale Atmosphäre.
Muranoglas wurde auch bei der extra für das Gebäude konzipierten Beleuchtung eingesetzt. Diese umfasst kachelförmige Lampen für die Zimmer, stabförmige für die Korridore und Bäder, kugelförmige für die Aufenthaltsbereiche und einen Kronleuchter für das zentrale Treppenhaus sowie die Kapelle. Das Treppenhaus schliesst ohne Zwischentüren direkt an den Haupteingang mit dem überhohen Foyer an und bildet einen gestalterischen Höhepunkt des Alterszentrums. Die Stufen winden sich mehrfach abgewinkelt mit dreieckiger Grundform in einem offenen Raum über sieben Stockwerke nach oben. Der Weg von einem Stockwerk zum anderen wird so zum Erlebnis. Zwei grosse Bullaugen pro Geschoss ermöglichen von den Korridoren aus Blicke ins Treppenhaus, in gegenüberliegende Bereiche oder in die anderen Stockwerke.
Ganz unten im Foyer, das analog zur Kapelle mit Wänden aus gestampftem Trasskalk ausgestaltet ist, schwebt der Treppenlauf, ohne den Boden zu berühren, scheinbar schwerelos im Raum. Für gern gesehene Besucher ein besonderer Empfang, der Lust darauf macht, die Treppen zu erklimmen und den neuen, überraschenden Alterssitz der Ingenbohler Schwestern zu entdecken.
Boltshauser Architekten
wurde 1998 von Roger Boltshauser in Zürich ins Leben gerufen. Heute hat das von seinem Gründer und fünf Geschäftsleitungsmitgliedern geführte Büro Niederlassungen in Zürich und München und beschäftigt rund 75 Mitarbeitende. Das Spektrum der Arbeit reicht von kleinen architektonischen Eingriffen bis hin zur Planung ganzer Stadtquartiere. Zu den bekannten Werken zählen unter anderem das Haus Rauch, 2008, der Neubau des Schulpavillons Allenmoos II in Zürich, 2012, der Gestaltungsplan für das Papieri-Fabrikareal in Cham, 2012, die Wohn- und Geschäftshäuser auf dem Baufeld F in der Europaallee beim Zürcher Hauptbahnhof, 2019, das Forschungsgebäude GLC der ETH Zürich, 2010–2023, oder auch das Zentrum für Zahnmedizin ZZM in Zürich-Hottingen, 2020–2024, sowie das Sport- und Schwimmzentrum Oerlikon in Zürich, 2020–2024.
→ boltshauser.info