Mit langem Atem
Auf dem Attisholz-Areal bei Solothurn betreibt die Halter AG kunstvolle Arealentwicklung. Und das wortwörtlich.
Was macht eine Zürcherin in Solothurn? Sie stolpert über einen ehemaligen Mitbewohner, der von hier stammt, aber seit einigen Jahren in Chicago lebt. Man umarmt und wundert sich, wie klein die Welt ist. Ob man schon das neue Kunstareal draussen vor der Stadt kenne? Man wundert sich weiter, weil man ausgerechnet dorthin auch will. Dabei avancierte das Attisholz-Areal während der vergangenen Sommer tatsächlich zum Hotspot für Kulturwütige, die in Zürich schon alles gesehen und in Basel längst gewesen sind. Es fanden Sinfoniekonzerte unter freiem Himmel statt, Technopartys und Performances, Urban-Art eroberte das verlassene Areal. Orte wie diesen vermutet man in Helsinki oder Berlin, in der Schweiz findet man sie kaum.
Es war einmal eine verbotene Stadt
Dem Attisholz-Areal kann man sich von zwei Seiten nähern. Von Luterbach aus, vorbei an Wiesen, Äckern und dem ultramodernen Bau des US-Pharmakonzerns Biogen. Man schaut kurz bei der ehemaligen Kläranlage rein, die zum Zen-Garten mit begehbarem Teich wurde, unterirdische Partylocation inbegriffen, man passiert ein schickes Restaurant. Alles gehört zum vom Kanton neu errichteten Uferpark. Und dann blickt man über die Aare zu diesem riesigen Koloss von Fabrik. Ineinanderverschachtelte Gebäude, ein standhafter Backstein-Kamin, der achteckige Säureturm. Industrie-Skyline at its best. Über eine Brücke gelangt man hinüber. Noch spektakulärer ist der Anblick, kommt man von Solothurn. Eine kurze Busfahrt nach Riedholz, man läuft durch den Wald, bergab geht es vorbei an weidenden Schafen und Direktorenvillen. Der Freund aus Solothurn erinnert sich, wie das hier früher gestunken hat. Der giftige Geruch ist verschwunden, die Gebäude überdauern und liegen plötzlich unter einem, mit Hallen, Treppen, Durchgängen, Türmen, Einblicken, Durchblicken. Jahrelang konnte man das Areal nicht betreten, eine verbotene Stadt.
Ein Generationenprojekt
Wie auch immer man herkommt, man sollte sich Zeit dabei lassen. Die Augen zusammenkneifen und sich versuchen vorzustellen, wie aus dieser Industriebrache, einer der grössten der Schweiz, etwas Neues entsteht. Man sollte versuchen, der Zukunftsmusik zu lauschen, die hier gespielt werden soll. Das Immobilienunternehmen Halter AG wird an diesem Ort 1200 Wohnungen für 2400 Personen realisieren, oben mit Alpensicht, unten mit Zugang zum Fluss. Dazu kommen etwa 1500 Arbeitsplätze in Bereichen wie Dienstleistungen, Gewerbe, Gastronomie. Das Ganze soll sich organisch entwickeln, nicht aus dem Boden gestampft werden. Entwicklungsleiter Andreas Campi sagt: «Dies ist ein Generationenprojekt, keine schnell aufgezogene Retortenstadt. Es geht in einer ersten Phase darum, die Destination Attisholz bekannt zu machen, bevor die eigentlichen Neubauten realisiert werden. Parallel zur Areal-Transformation werden die Planungsinstrumente - Umzonung, neue baurechtliche Bestimmungen für die zukünftige Nutzung, Gestaltungspläne, Baubewilligungsverfahren - vorbereitet und umgesetzt.» Angepeilt werde das Jahr 2040. Dann soll das Attisholz-Areal ein neuer, urbaner Dorfteil von Riedholz sein. 2400 Menschen könnten einmal hier leben, in der Gemeinde Riedholz selbst sind es bis dato nicht so viele. Es wird also auch eine Entwicklung der nötigen Infrastruktur brauchen, mit Anschluss an den öffentlichen Verkehr, mit Betreuungsangeboten, einer Schule. Das frühere Niemandsland wird die Region verändern, Chance und Herausforderung sein.
Bewegte Vergangenheit
Tatsächlich ist dies ein Ort, den die Zeit prägte. Einer mit Geschichte, mit Hochzeiten und Tiefpunkten. 1881 baut die Zellulose Attisholz AG die bis dahin einzige Zellulose-Fabrik der Schweiz. Das Geschäft boomt, bis zu 1000 Menschen arbeiten hier. Als es nicht mehr so gut läuft, wird mehrfach verkauft. Der vorletzte Besitzer ist Christoph Blocher. Der ehemalige Bundesrat und Unternehmer kauft die Fabrik 2001, verkauft sie aber nur zwei Jahre später. Einzig einen Hodler aus dem Verwaltungsratszimmer habe er behalten, wird gemunkelt. Die norwegische Orkla-Gruppe schliesst die Fabrik 2008 dann endgültig. Das Geschäft lohnt nicht mehr. 440 Menschen stehen auf der Strasse, 16 Hektar fallen in den Dornröschenschlaf. Der nun von der neuen Eigentümerin behutsam beendet werden soll.
Kultur als Entwicklungsmotor
Bis das Attisholz-Areal einmal bewohnt wird, hat die Kunst hier Einzug gehalten. Drei Sommer über trieb das Projekt «Kettenreaktion» seine künstlerischen Blüten, belebte die verlassenen Hallen. Die Halter AG unterstützt dabei den Verein Behind The Surface (BTS). Dessen Initiator Werne Feller ist überzeugt: «Kunst und Kultur bringt die Entwicklung des grossen Geländes voran und füllt es schon jetzt mit Leben.» Er selbst ist mit seinem Verein Experte darin, Plattformen für Künstler zu schaffen. 2016 initiierte Feller hier zum ersten Mal das interdisziplinäre Kunst- und Urban-Art-Festival. Nationale und internationale Kunstschaffende aus den Bereichen Urban Art, Kunst, Design, Installation oder Fotografie verwandelten die Räume und Hallen der ehemaligen Zellulosefabrik in einen der grössten Kunsträume der Schweiz. Einen Treffpunkt der Gegenwartskunst mit Graffitis, Kabinetten, Objekten und Installationen. Die neue Besitzerin des Areals überzeugte das Konzept der Arealinszenierung. Entstanden ist daraus die Beiz Kantine, betrieben vom in der Solothurner Gastroszene bekannten Ueli Wüthrich. Hier gibt es regelmässig Musik auf die Ohren und Leckeres auf den Teller. Im Winter Fondue und Eintöpfe. Im Sommer Grilladen. Früher war dies die Portierloge, hier kamen die Arbeiter vorbei, um sich registrieren zu lassen. Heute sitzen hier Familien in der Sonne, junge Paare, Freunde treffen sich auf ein Bier. Das Leben ist zurück in den Gemäuern, die Farbe atmen. Die Spätsommer-Sonne blinzelt zwischen den Betonriesen hindurch. Streift riesige Murals, eine Schildkröte des Basler Künstlers Dest Jones, sie bescheint eine bunt gekleidete Frau mit Lilien auf dem Kopf. Das Porträt der kalifornischen Muralistin Monica Canilao ist 40 Meter hoch und vom Duo Husmann/Tschaeni.
Tribüne für 800 Leute
Blocher unterdessen ist auf eine Art geblieben, als grösste Wandmalerei des Landes. Angeschmiert durch eine Farbattacke. Die beiden Schweizer Künstler S2 13 und Gen Atem, Pioniere der Urban Art Szene, schufen das rund 1000 Quadratmeter grosse Wandbild. Das durchaus kontrovers diskutiert wird. Am Nachmittag unseres Besuchs hat darunter eine Festgesellschaft Platz genommen. Bis zu 800 Leuten bietet die Betontribüne Platz. Es wird Hochzeit gefeiert, ein Freund des Paares hält eine Rede. Zwischen seinen Worten weht es Beats herüber. In direkter Nachbarschaft posieren ein paar Jungs mit grosser Geste vor noch grösserer Karre. Die «verbotene Stadt» als coole Hintergrundkulisse eines Hip-Hop-Videos. Über die Arena steigt man zum Vorplatz, zum ehemaligen Säureturm und der Kiesofenhalle. Beides ist denkmalgeschützt. Hier standen einst in den Boden eingelassene Lagertanks, heute ist da ein Spielplatz mit unterirdischem Labyrinth. Kinder spielen hier Fangen, man hört ihr Lachen.
Vergängliche Urban Art
Die Graffitis an den Wänden haben derweil Halbwertszeit, viele aus dem Vorjahr wurden mit neuen übermalt. Urban Art lebt nicht hinter Plexiglas. Einen selbst zieht es in den Bauch des «Artcampus», rein in die grosse Halle, «die Werkstatt». Grossformatige Wandmalereien sieht man hier, Mario Merkle hinterliess Schwangere und Teufel, Schmetterlingsfrauen und Adler in Bonbonfarben, da drüben ist die Intervention «Attis-Adventures 3000» von Lea Fröhlicher und Olivia Hegetschweiler zu erleben. Die beiden Künstlerinnen versprechen den Besuchern vielfältige Freizeiterlebnisse, ein augenzwinkernder Kommentar zur Arealentwicklung, zu Eventkultur und Spassgesellschaft. Der «Drugsomat» von Martin Gut in der Kocherei ist leider gerade defekt. Man steigt Treppen hoch, entdeckt Hinterhöfe, läuft durch Gänge, durch winzige Räume, riesige. Es riecht nach Farbe, man streift mit den Fingern über die Betonwände, staunt sich durch pinke Räume, Räume in schwarz-weiss. Während der «Kettenreaktion» gab es hier auch Musik, Tanz, Film, Fotografie, Installationen und Performances, Kurse und Führungen.
Interesse der Wissenschaft geweckt
Ob das alles dazu beitragen wird, dieses Areal für künftige Bewohner attraktiv zu machen, bleibt spannend. Mit einem erwarteten Investitionsvolumen von über 1 Milliarde Franken ist dies das grösste Projekt der Halter AG. Campi sagt: «Das Generationenprojekt ist betreffend Umsetzungsdauer, Investitionsvolumen und Grundstücksgrösse einzigartig in unserem Portfolio. Aber auch hinsichtlich des Potenzials für ein nachhaltiges Generationenprojekt: Die Transformation über ein organisches Wachstum, welches wirtschaftlich und politisch mit dem Kanton Solothurn und der Gemeinde Riedholz abgestimmt ist.» Auch die Wissenschaft hat das innovative Potenzial dieses Areals erkannt. Die Transformation, der Prozess der Umwandlung brachte schon Architektur-Studenten der Berner Fachhochschule her.
Anhaltende Tranformation
Eingeleitet ist er also nun, der Übergang des verlassenen Industrieareals in ein visionäres Lebensquartier. Das sich auch in den kommenden Jahren immer wieder verändern wird. Wer werden die ersten Mieter sein, wenn das Umfeld noch eine Baustelle ist? Und wer wird nachziehen, sobald die letzten Kräne verschwunden sind? Die Macher der «Kettenreaktion» fragen auf ihrer Webseite: Wann ist eine Transformation abgeschlossen? Kann es einen Status Quo in der Entwicklung eines Lebensraumes geben? Leben selbst kennt keinen Stillstand. Gelungen ist ihnen ein lebendiger, inspirierender Ort, ein Platz für Kunst und Kultur, der weiterhin bestehen soll. Bleibt zu beobachten, wie er den Charakter dieses Quartiers prägen wird. Erstmal wird hier aber gross gefeiert: Das Eröffnungsfest der Solothurner Filmtage findet am 25. Januar auf dem Attisholz-Areal statt, mit Shuttle-Betrieb bis fünf Uhr in der Früh. An diesen, so schreiben die Initianten, «tollen Ort, den die Schweiz noch nicht wirklich kennt.» In Chicago zumindest hat man schon davon gehört.
Recording 3.0
Den Abschluss der Kettenreaktion 19 bildet die Publikation «Recording 3.0.», eine Dokumentation der Veranstaltung und der Veränderungen, die das Areal durch sie während drei Monaten erfahren hat. Bereits in einem ersten Band wurden die temporären Kunstwerke um Umfeld der Industriearchitektur festgehalten.