Mehr Farbe in der Binz
Nachhaltig, günstig, sozial – das waren die Kriterien, die ein Neubau auf einer früheren Industriebrache in Zürich-Wiedikon erfüllen sollte. Mehr als 400 Wohneinheiten sind für insgesamt 59 Millionen Franken Gesamtkosten entstanden, dazu Ateliers, Gemeinschaftsräume und ein Restaurant. Der Kostendruck war hoch, doch Gmür & Geschwentner Architekten haben trotz aller nötigen Standardisierung jene Freiräume gefunden, welche die Siedlung Binz 111 vom Durchschnitt abhebt und besonders macht.
Uetlibergstrasse 111? Vielen, die in Zürich leben, kommt die Adresse bekannt vor. 1983 hatte die Stadt das einstige Firmengelände der auf Metallgiesserei und -verarbeitung spezialisierten Color Metal AG in der Binz übernommen, um hier ein Verwaltungsgebäude samt Bezirksgefängnis zu errichten. Doch das Vorhaben kam nicht voran, und so folgte eine Kette von diversen Zwischennutzungen. Als das Gelände erneut leer stand, besetzte im Mai 2006 eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich Familie Schoch nannte, die aus dem Jahr 1894 stammenden Hallen. Unter dem Stichwort «Binz bleibt Binz» entstand dort ein alternatives Wohn-, Arbeits- und Kulturprojekt, das aufgrund eines Gebrauchsleihevertrags mit der Stadt für drei Jahre in seiner Existenz gesichert werden konnte.
Schwieriger wurde die Situation, als die Stadt Zürich das Gelände 2009 an den bürgerlich dominierten Kanton abtrat. Unter gewissen Auflagen wurde die Familie Schoch weiter geduldet, der es immer wieder gelang, durch medienwirksame Aktionen auf sich aufmerksam zu machen. So beispielsweise mit der legendären Bereitstellung der geforderten 20 000 Franken Sicherheit für etwaige Räumungskosten in Form von mehreren Schubkarren mit 5-Rappen-Münzen. Weniger lustig war allerdings ein Protestzug im März 2013, bei dem es zur Plünderung von mehreren Geschäften kam. Nach sieben Jahren endete die Besetzung Ende Mai 2013; einer gewaltsamen Räumung kam die Familie Schoch durch das Verlassen des Areals zuvor.
Nachhaltigkeit, komplex gedacht
Besucht man das Gelände sechs Jahre später, so erinnert nichts mehr an die bewegte Vorgeschichte. Heute wohnen hier in zwei im August 2018 fertiggestellten Gebäuden Angestellte des Universitätsspitals und Studierende. Ausserdem findet man ein vietnamesisches Restaurant, eine Kinderkrippe, einige Ateliers und Gewerberäume. Familie Schoch, in deren Weltbild Studierende eher als stipendiengepäppelte Kinder reicher Eltern figurierten, hätte sich die Zukunft des Areals anders vorgestellt. Aber ohne die Besetzung wäre es kaum zu dieser Lösung gekommen. Denn so viel ist klar: Die mögliche Räumung eines im öffentlichen Besitz befindlichen Grundstücks beispielsweise für den Bau von Luxusimmobilien hätte im links-grün regierten Zürich sozialen Sprengstoff bedeutet. So war der Kanton gut beraten, eine sozialverträgliche Nutzung zu finden und damit letztlich von seiner Seite aus zur Deeskalation beizutragen.
Wie die Entwicklung des Areals in die Wege geleitet wurde, war für hiesige Verhältnisse eher ungewöhnlich. Ein Teil des Raumprogramms, für das der Kanton das Grundstück im Baurecht abzutreten bereit war, sollten 180 Personalwohnungen für das Universitätsspital Zürich sein. Um ein tragfähiges Gesamtkonzept zu erhalten, veranstaltete das Immobilienamt des Kantons 2011 einen Investorenwettbewerb auf Einladung. Gesucht wurde eine Nutzung, die sich mit den Personalwohnungen vertrüge. Zum Sieger avancierte ein Projekt, das neben den Personalwohnungen 237 Apartments für Studierende umfasste und von der Stiftung Abendrot gemeinsam mit der Tescon AG vorgelegt worden war.
Die Basler Stiftung Abendrot, 1985 gegründet, ist eine Pensionskasse, die sich – selbst in der Anti-AKW-Bewegung wurzelnd – nachhaltigen Anlagekriterien verschrieben hat. Und nachhaltig heisst hier nicht lediglich den Forderungen der 2000-Watt-Gesellschaft entsprechend energetische Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit besitzt für die Stiftung ökologische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen gleichermassen. Abendrot sucht den Dialog mit den Nutzerinnen und Nutzern, wie etwa bei den mehrfach ausgezeichneten Projekten am Lagerplatz Winterthur. Während andere Pensionskassen nur auf Bewährtes setzen, begleitet die in Basel ansässige Stiftung die Prozesse, wagt Experimente und ist dennoch damit überaus – notabene auch wirtschaftlich – erfolgreich.
Auf Irritation, insbesondere bei der Familie Schoch, stiess seinerzeit allerdings die Tatsache, dass Abendrot sich mit dem Immobilienunternehmer Werner Hofmann und dessen Tescon AG zusammengetan hatte. Die von Hofmann verantwortete, eher undurchsichtige Zwischennutzung im nahe gelegenen Hotel Atlantis war auf zwiespältige Reaktionen gestossen. Doch nach dem Zuschlag übernahm die Stiftung Abendrot die gesamte Verantwortlichkeit für die Uetlibergstrasse 111.
Architektur und Kostenoptimierung
Das von der Stiftung vorgelegte Konzept umfasste nicht nur die Anzahl der Wohnungen, sondern auch garantierte Mietpreise. Nächster Schritt war ein Wettbewerb auf Basis dieser Parameter, und zwar in Form eines nicht anonymen Studienauftrags unter sechs eingeladenen Architekturbüros. Durchsetzen konnte sich das Projekt Binz 111 des Zürcher Büros Gmür & Geschwentner: ein robustes, sich in die industriell geprägte Umgebung einfügendes Ensemble aus einem lang gestreckten, achtgeschossigen Block und einem winkelförmigen, dreigeschossigen Volumen mit viergeschossigem Kopfbau.
Zunächst war geplant, den lang gestreckten Innenhof als überdachte Mehrzweckhalle auszubilden, doch diese Idee fiel der anschliessenden Überarbeitung zum Opfer. Denn letztlich hatte keines der Projekte die von der Stiftung Abendrot maximale Kostenmarke erzielen können, auch das von Gmür & Geschwentner nicht. Selbst als das Vorprojekt vorlag, war sich die Bauherrschaft allerdings nicht sicher, ob das Kostendach eingehalten werden könnte. In dieser Situation beauftragte Abendrot Halter Gesamtleistungen mit der Überarbeitung des Projekts in Absprache mit den Architekten – und als Totalunternehmerin mit der Ausführung. Insbesondere die Haustechnik wurde völlig neu konzipiert: Die ursprüngliche Pelletheizung entfiel, stattdessen sorgen Erdsonden im Verbund mit thermisch aktivierten Decken und eine Wärmerückgewinnung aus dem Abwasser für die nötige Energie.
Aber auch in allen anderen Bereichen ging es darum, das Bauvorhaben ökonomisch tragfähig zu machen. Leicht sei dieser Prozess nicht gewesen, erklären Patrick Gmür – er selbst kam erst 2016 nach dem Ende seiner Tätigkeit als Leiter des Amts für Städtebau der Stadt Zürich zurück ins Büro – und Michael Geschwentner bei einem Rundgang durch die Siedlung, aber extrem lehrreich. Hilfreich gewesen sei eine zusätzliche Verdichtung. Ein Attikageschoss mehr auf dem Haupthaus und ein Vollgeschoss mehr auf dem Winkelbau hätten es ermöglicht, an anderen Stellen architektonische Akzente zu setzen.
So zum Beispiel mit dem räumlich opulenten Saal des Restaurants, das an der Stirn des Langhauses einen öffentlichen Akzent setzt. Oder, worauf sie besonders stolz sind, mit der quer gelagerten Kaskadentreppe, die, von Geschoss zu Geschoss die Richtung wechselnd und um eine Achse verspringend, eine atemberaubende Diagonale im Langhaus bildet. Diese «Goethe-Treppe», wie sie sie gerne nennen, bildet den Erschliessungskern, weil man von ihr aus die Korridore des zweibündig organisierten Hauses erreicht, sie fungiert aber zugleich als ein kommunikatives Zentrum. Die Treppe gab es schon im ersten Projektentwurf, und den Architekten ist es gelungen, sie über alle Sparrunden zu retten. Zur Wohnqualität tragen überdies die gemeinschaftlichen Balkonterrassen an den östlichen Gebäudestirnen bei, von denen man einen grossartigen Blick über Zürich geniesst.
Farbiges Bauen
Möglichst viele gleiche Elemente zu schaffen, sei eine weitere Strategie gewesen, um Kosten zu sparen, sagen die Architekten. Die Zimmer der Häuser sind gleich geschnitten und gleich ausgestattet, nur an den jeweiligen Gebäudestirnen und im Kopfbau befinden sich grössere, zumeist als Wohngemeinschaften gedachte Wohnungen mit bis zu neun Zimmern. Die Nasszellen kamen komplett vorinstalliert auf die Baustelle. Und noch eine Strategie nennen Gmür & Geschwentner: die Minimierung der beteiligten Gewerke zugunsten eines für die Realisierung verantwortlichen Baumeisters. Diese Entscheidung führte zur einfach zu erstellenden konstruktiven Lösung mit einem Sockel aus Betonfertigteilen und darüber Fassaden aus Einsteinmauerwerk. Dessen maximale konstruktive Höhe führte zu dem viergeschossigen Betonsockel am Haupthaus.
Der dunkelviolette Farbton, der auch Caput mortuum heisst, bildet den Grundton des Gebäudes. Bei einer Aussendämmung liesse er sich nicht verwenden, da sich die Fassadenhaut aufgrund der geringen Reflektion zu stark erwärmen würde. Doch bei einer klassischen Putzfassade stellt das kein Problem dar. Farbiger zeigt sich die als Laubengang ausgebildete Hoffassade des viergeschossigen Winkelbaus: Hinter den hellblauen Stützen sind die Fassaden pink gestrichen und die Wohnungstüren in wechselnden Farben. Diese Buntfarbigkeit bestimmt auch die farblich schier explodierende Kaskadentreppe und die Korridore im Haupthaus.
Seit der Erweiterung des Schulhauses Scherr (2002) ist farbiges Bauen gleichsam ein Markenzeichen der Architektur von Patrick Gmür und seinem Partner Michael Geschwentner, wobei sie häufig – und auch in der Binz – mit dem Künstler Peter Roesch zusammenarbeiten. Farbe kostet so gut wie nichts, trägt aber entscheidend zur Wirkung und Anmutung eines Gebäudes bei. Das wusste schon Bruno Taut, als er in der wirtschaftlichen Krisensituation nach dem Ersten Weltkrieg zum «farbigen Bauen» in den grauen Mietskasernenstädten aufrief.
Auch Gmür & Geschwentner setzen bewusst auf Gegenakzente zur gedeckten Farbpalette des, wie sie es nennen, «beigen Zürich». Das zeigte sich nicht zuletzt an dem wohl bekanntesten Projekt des Büros, das Patrick Gmür 2009 fertiggestellt hatte, kurz bevor er die Leitung des Amtes für Städtebau übernahm: der Wohnsiedlung James im Zürcher Stadtteil Albisrieden. Diese fungierte in mancherlei Hinsicht als Vorbild für den Wohnkomplex Binz 111. So auch hinsichtlich der Rezeption und Briefkastenanlage, die im Kopfbau an der Uetlibergstrasse 111 allen Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung steht und damit einen gemeinsamen Anlaufpunkt bildet.
Gmür & Geschwentner Architekten
Gmür & Geschwentner Architekten
Das Büro Gmür & Geschwentner Architekten + Stadtplaner ist in Zürich ansässig und besteht aus einem Team von ungefähr 30 Personen. Es hat seinen Ursprung in einem 1989 gegründeten Architekturbüro, das Patrick Gmür zunächst (bis 1998) gemeinsam mit Regula Lüscher geführt hatte, bevor diese stellvertretende Direktorin des Amtes für Städtebau Zürich und schliesslich Senatsbaudirektorin in Berlin wurde. 2005 wurde der langjährige Mitarbeiter Michael Geschwentner zum Mitinhaber des Büros, und er leitete es zwischen 2009 und 2016 in Eigenregie, als Patrick Gmür Direktor des Amtes für Städtebau der Stadt Zürich war. Das Büro widmet sich unterschiedlichen Bauaufgaben, einen besonderen Schwerpunkt stellen aber Wohnbauten dar. Zu den bekanntesten Projekten in Zürich zählen die Überbauung Paul-Clairmont-Strasse (2006, zusammen mit Jakob Steib), die Wohnsiedlung James in Zürich-Altstetten (2008) und das Wohnhochhaus Hard Turm Park (2014). Merkmal vieler Bauten von Gmür & Geschwentner ist eine starke Farbigkeit, die häufig in Zusammenarbeit mit dem Luzerner Künstler Peter Roesch entwickelt wird.