«Lange hat man sich in Genf auf seine Nachbarn verlassen»
Genf leidet unter einer lang anhaltenden Wohnungskrise, was der Attraktivität der Region jedoch keinen Abbruch tut: Bis 2050 soll die derzeit etwa eine Million Einwohnerinnen und Einwohner zählende Bevölkerung des Grossraums Genf um 200 000 bis 400 000 Menschen wachsen. Ein Gespräch mit Staatsrat Antonio Hodgers, Leiter des Departements für Raumplanung, über die Herausforderungen des Grenzkantons.
Er will die Stadt verdichten, räumt aber auch ein, dass sie grüner werden muss – kein einfacher Balanceakt. Vom Büro des grünen Staatsrats Antonio Hodgers in der Genfer Altstadt aus sind die Probleme der rasant wachsenden Region zwar nicht sichtbar, in seiner Arbeit sind sie aber tagtäglich präsent. Wie kann man den Herausforderungen wachsender Städte begegnen? Wie gewinnt man die Zustimmung der Bevölkerung für grosse Entwicklungsprojekte? Wie kann man auf klimatische Veränderungen im städtischen Raum reagieren? Und wie schafft man alles in nützlicher Zeit? Der Politiker zeigt Lösungen auf.

Die Wohnungskrise dauert seit mehreren Jahren an. Unternimmt Genf nichts und verlässt sich auf das benachbarte Frankreich und den Kanton Waadt für die Bereitstellung von Wohnraum?
Die Wohnungskrise, die den gesamten Grossraum Genf betrifft, widerspiegelt ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Dieses Ungleichgewicht ist grösstenteils auf die hohe Attraktivität unserer Region zurückzuführen. Tatsächlich hat sich Genf lange Zeit auf seine französischen und waadtländischen Nachbarn verlassen, was den Wohnungsbau betrifft. Doch seit etwa zehn Jahren hat sich die Bautätigkeit in unserem Kanton beschleunigt, insbesondere mit der Entstehung grosser städtischer Entwicklungsprojekte: Cherpines, Praille Acacias Vernets, Bernex, L’Étang und so weiter. Jetzt müssen wir weiter planen – immer mit dem Ziel, die städtische Zersiedelung und deren ökologische Folgen zu vermeiden.
Die Leerstandsquote ist in den letzten zwei Jahren gestiegen, bleibt aber klar unter zwei Prozent. Welche Massnahmen ergreift der Kanton, um die Krise auf dem Wohnungsmarkt zu verbessern?
Um dem Mangel an Wohnungen entgegenzutreten, hat der Kanton neue Stadtviertel in Entwicklungszonen gebaut – und tut dies weiterhin. Seit 2016 haben wir pro Jahr über 2000 neue Wohnungen erstellt, mit einem Höchststand von 3500 neuen Wohnungen im Jahr 2023. Doch nun lässt das Bautempo nach, was zeigt, dass das Potenzial der grossen Projekte bald ausgeschöpft ist. Natürlich gibt es noch das Projekt Praille Acacias Vernets, auch PAV genannt, mit rund 11 000 geplanten Wohnungen, aber dessen Fertigstellung wird noch mehrere Jahrzehnte dauern.
Der aktuelle kantonale Richtplan sieht den Bau von 50 000 neuen Wohnungen bis 2030 vor. Wird dieses Ziel erreicht?
Dieses Ziel ist ehrgeizig, aber machbar, wenn wir eine strenge Planung beibehalten und eng mit den Gemeinden und privaten Partnern zusammenarbeiten. Die laufenden Grossprojekte wie das PAV und andere neue Stadtviertel sind entscheidend, um dieses Ziel zu erreichen.

Verfügt der Kanton noch über genügend Bauland, um seine Pläne zu verwirklichen?
Es existieren verfügbare Flächen, aber ihre Erschliessung erfordert eine strategische Herangehensweise, die auf Verdichtung und Umnutzung brachliegender Areale setzt. Wir achten darauf, unsere landwirtschaftlichen Zonen und Naturräume zu bewahren und gleichzeitig die Nutzung städtischer Flächen zu maximieren. Anders ausgedrückt: Es werden keine Landwirtschaftszonen mehr umgezont. Um neue Stadtviertel zu errichten, müssen wir deshalb bereits bebaute Bereiche finden – so, wie dies auch der Bund von uns fordert.
Gibt es bereits Pläne oder Ideen zur Vorgehensweise?
Mein Departement wird bald die Überarbeitung des kantonalen Richtplans in Angriff nehmen, der als Leitfaden für die Stadtentwicklung dient. Dieser Richtplan muss vom Grossen Rat und anschliessend vom Bundesrat genehmigt werden. Wir werden ihn in Zusammenarbeit mit den Gemeinden, Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialverbänden sowie allen betroffenen Berufsgruppen erarbeiten. Ich wünsche mir, dass dieses Dokument – obwohl es sehr technisch ist – einen breiten Konsens findet. Unangenehme Themen werden wir nicht umgehen können, etwa die Frage nach Flächen für industrielle oder wenig wertschöpfende Aktivitäten und insbesondere für neue Stadtviertel.
An welche Gebiete denken Sie konkret?
Da die landwirtschaftlichen Zonen nicht mehr angetastet werden können – auf Anweisung des Bundes, aber auch aus eigener Überzeugung –, liegt das Potenzial in bereits bebauten Gebieten, etwa in der Villenzone. Schon der aktuelle Richtplan sah vor, elf Prozent der Villenzone für eine städtische Umgestaltung zu nutzen. Tatsächlich konnten wir jedoch nur ein Prozent verändern. Das ist eine schwierige Thematik – in Genf genauso wie anderswo.
Das PAV gehört zu den grössten laufenden Entwicklungsgebieten Europas. Glauben Sie, dass die aktuelle Vision inklusive der geplanten Hochhäuser vollständig umgesetzt wird?
Die Vision des PAV basiert auf Dichte, sozialer Durchmischung und Nachhaltigkeit. Hochhäuser sind nur eine von mehreren architektonischen Lösungen. Es wird aber nicht nur Türme geben! Hochhäuser ermöglichen es jedoch, mehr Raum für öffentliche Flächen freizugeben. Ich glaube, dass diese Vision aktueller denn je ist, da wir heute wissen, wie wichtig Plätze, Esplanaden und Parks für die Identität und die Lebensqualität eines Viertels sind. Allerdings wird es notwendig sein, die Partner und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ein Hochhaus öffentlich zugänglich sein kann, dass man etwa am Abend auf dem Dach etwas trinken gehen kann. Das Klischee eines Bürohochhauses oder eines Luxusbaus für Ultrareiche muss widerlegt werden.
In Ihren Projekten, nicht nur im Rahmen des PAV, setzen Sie auf die Verdichtung bestehender urbaner Gebiete anstelle der städtischen Zersiedelung. Welches war die grösste Herausforderung bei der Umsetzung der Strategie?
Die grösste Herausforderung bestand darin, Vorbehalte gegenüber der Verdichtung auszuräumen, da diese oft als Bedrohung der Lebensqualität wahrgenommen wird. Ich erkläre immer wieder, dass das Problem nicht die blosse Anzahl der Menschen ist, sondern die Art und Weise, wie diese zusammenleben. Es müssen geeignete Massnahmen ergriffen werden, um dieses Wachstum zu begleiten, insbesondere in den Bereichen Mobilität und öffentliche Infrastruktur. Die Angst vor Veränderung ist ein weitverbreitetes Phänomen – sei es die Veränderung der Identität einer Gemeinde, des städtischen Landschaftsbildes oder der demografischen Struktur. Zum Glück brauchen neue Stadtviertel viel Zeit, um sich zu entwickeln. Dies ermöglicht es den verschiedenen Akteuren, sich mit der neuen Realität auseinanderzusetzen und sie sich schrittweise anzueignen.
Ich erkläre immer wieder, dass das Problem nicht die blosse Anzahl der Menschen ist, sondern die Art und Weise, wie diese zusammenleben. Es müssen geeignete Massnahmen ergriffen werden, um dieses Wachstum zu begleiten, insbesondere in den Bereichen Mobilität und öffentliche Infrastruktur.
Wie haben Sie die Erwartungen der Anwohner konkret in Ihre Projekte integriert?
Es gibt viele Beispiele – etwa bei den Projekten Cherpines, Grand-Saconnex oder der Tramlinie nach Nations. Die Veränderungen sind aber selten spektakulär. Oft geht es darum, die Erfahrungen der Anwohner in die Entwicklung eines neuen Viertels einzubeziehen. Wir arbeiten mit Fusswegen, Grünflächen, der Stadtmöblierung oder der Gestaltung von Gärten. Auch wenn solche Anpassungen klein erscheinen mögen, sind sie für mich entscheidend, denn sie ermöglichen den Wandel von einer Haltung des Misstrauens hin zu einer aktiven Beteiligung. Für das planende Departement, das ich leite, ist dies ein bedeutender Schritt. So kann Begeisterung für ein Projekt entstehen. Aber noch wichtiger ist, lokale Vereinsaktivitäten zu fördern, indem beispielsweise ein Gebäude erhalten bleibt, für das zuvor keine klare Nutzung vorgesehen war. Auch Architekturwettbewerbe sind ein interessantes Instrument. Wo immer möglich nehmen Vertreter von Vereinen, die gegen ein Projekt sind, offiziell in der Jury Einsitz. Durch den direkten Kontakt mit einem Projekt, seinen Beschränkungen und Möglichkeiten werden sie oft zu den besten Botschaftern für das Siegerprojekt. Schliesslich sind Wohnbaugenossenschaften ein vorbildliches Modell der Bürgerbeteiligung. Das kann sehr weit gehen – und ist nicht für jeden geeignet –, aber es kann durchaus bereichernd sein, in einer Wohnung zu leben, deren Entstehung man von Anfang an mitgestaltet hat.
Stösst diese Strategie nicht auch an Grenzen? Einsprachen, längere Entwicklungszeiten als geplant und so weiter?
Gegenwind bedeutet nicht, dass wir aufgeben oder unser Engagement zurückfahren sollten. Transparente Kommunikation und die Fähigkeit, Projekte den Erwartungen der Bürger anzupassen, sind essenziell, um diese Hindernisse zu überwinden. Wenn der Staat nicht beständig Wohnungen, Schulen, Kultureinrichtungen und vieles mehr baut, wer tut es dann? Es ist eine Frage der Verantwortung, nicht der Opportunität.
Ist eine echte Wohnungspolitik realistisch angesichts der zahlreichen Einsprachen, die grosse Projekte oft verzögern oder gar verhindern?
Ich möchte klarstellen: Kein einziges Projekt für ein neues Stadtviertel wurde gestoppt. Doch manchmal muss ein Entwurf überarbeitet werden. Oppositionen ernst zu nehmen, bedarf einer starken politischen Entschlossenheit. Die Antwort lautet: Ja, unsere Wohnungspolitik wird tagtäglich umgesetzt.
Sie haben Wohnbaugenossenschaften erwähnt, auf die Genf setzt. Sind sie das beste Mittel, um die Bürger zu beteiligen?
Sie sind eine gute Alternative, da sie die direkte Beteiligung der Bürger an der Verwaltung ihres Wohnraums ermöglichen und gleichzeitig eine nachhaltige und erschwingliche Alternative zum klassischen Immobilienmarkt bieten. Die Form der Bürgerbeteiligung variiert je nach Grösse, Standort und Zielsetzung des Projekts.
Sollten angesichts der bisherigen Erfahrungen private Entwickler stärker eingebunden werden, um den urbanen Wandel zu beschleunigen und den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden?
Die Einbindung privater Entwickler ist unerlässlich, muss jedoch in einem klaren und transparenten Rahmen erfolgen, der sicherstellt, dass ihre Projekte sozialen und nachhaltigen Zielen entsprechen.
Sie haben gesagt, der Bedarf an Wohnungen sei dringend, doch das Bautempo verlangsame sich. Ein Problem ist die lange Bearbeitungszeit für Baugenehmigungen. Kann Genf diese verkürzen?
Die Digitalisierung der Prozesse ist dafür der wichtigste Hebel. Ich möchte aber betonen, dass der Kanton eine signifikante Zunahme an Bauanträgen bewältigt hat, ohne die Personalkapazitäten zu erhöhen – was bereits eine beachtliche Leistung ist.

Wie kann die regelmässige Opposition zwischen Stadt und Kanton überwunden werden?
Es gibt keine systematische Opposition. Im Einzelfall gelingt es uns immer wieder, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Was sind die grössten Differenzen zwischen Stadt und Kanton?
Im Kern gibt es keine grundlegenden Differenzen. Beide verfolgen dieselben Ziele: erschwinglichen Wohnraum für alle Bevölkerungsgruppen, begrünte Quartiere und eine lokale Wirtschaft. Der Unterschied liegt vielmehr in den zur Verfügung stehenden Instrumenten, was sich aber eher auf die Umsetzungsmethoden als auf das eigentliche Ziel auswirkt.
Wir müssen die Verdichtung als Chance begreifen, um die Stadt des 21. Jahrhunderts zu gestalten.
Welche Prioritäten verfolgt die Stadt und welche Prioritäten der Kanton?
Die Prioritäten widerspiegeln sich in den jeweiligen Zuständigkeiten. Ein Beispiel: Die Stadt ist für öffentliche Räume und Begrünung verantwortlich, während die kantonalen Behörden für eine intelligente und nachhaltige Nutzung des Bodens sorgen. Wir müssen die Verdichtung als Chance begreifen, um die Stadt des 21. Jahrhunderts zu gestalten.
Die ökologische Wende steht im Zentrum der aktuellen Stadtentwicklungspolitik. Wie lassen sich die Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung und der Energiewende in die Genfer Stadtplanungsprojekte integrieren?
Jedes Projekt erfüllt strenge Standards in den Bereichen Energieeffizienz, Ressourcenmanagement und Biodiversitätsschutz. Zudem fördern wir die Nutzung erneuerbarer Energien und sanfter Mobilitätslösungen. Alle Projekte sind nachhaltig konzipiert, aber ich glaube, dass das zukünftige Viertel Acacias 1 im PAV besonders erfolgreich sein wird. Dort werden eine wieder freigelegte Flusslandschaft, autofreie Strassen und multifunktionale Dächer entstehen, auf denen Solarenergie erzeugt, Biodiversität gefördert und Regenwasser gespeichert wird.
Genf ist ein Grenzkanton. Inwiefern erschwert diese spezielle geografische Situation die städtischen Projekte?
Sind wir ehrlich: Genf profitiert stark von seinem Status als grenzüberschreitende Metropole. Wir haben ein reiches, vielfältiges Hinterland und verfügen über qualifizierte Arbeitskräfte. Allerdings hat uns die abwartende Haltung in bestimmten Bereichen vor Probleme gestellt, insbesondere bei der Mobilität. Genf ist verstopft, das Autofahren ist äusserst mühsam, und einige Dörfer werden den ganzen Tag über von Pendlerströmen durchquert. Wir müssen daher den Rückstand aufholen, indem wir den Léman Express weiter ausbauen und Park-and-Ride-Parkplätze auf französischem Boden finanzieren. Ich persönlich schätze grenzüberschreitende Kooperationsprojekte, da sie uns zwingen, überregional zu denken und gleichzeitig pragmatische Lösungen zu entwickeln.
Welche Projekte sind in den nächsten zehn Jahren für die Zukunft Genfs entscheidend?
Das PAV-Projekt, weil es neue Stadtteile schafft, wie wir sie bisher nicht gekannt haben. Die energetische Sanierung von Gebäuden, die unseren Energieverbrauch senken und unseren ökologischen Fussabdruck reduzieren wird. Und schliesslich die Entwicklung erneuerbarer Energien, die eine grossartige ökologische und wirtschaftliche Chance darstellt.