Kleine Freiheit, grosse Bühne

Der Balkon bildet eine Schnittstelle zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit. Einst nutzten ihn Könige und Diktatoren für politische Reden; der Literatur und dem Theater diente er als Bühne für romantische Gefühlsbezeugungen. Erst in moderner Zeit wurde der Balkon zu einem Ort der Erholung und zum erweiterten Lebensraum für jedermann.

Petersdom, Rom

Architektur: Donato Bramante, Michelangelo, Gian Lorenzo Bernini und andere

Die Basilika Sankt Peter im Vatikan ist eine der grössten und bedeutendsten Kirchen der Welt. 120 Jahre dauerten die Bauarbeiten, an denen viele berühmte Architekten und Bildhauer beteiligt waren. Trotz unterschiedlicher Stile – Renaissance, Manierismus, Barock – ist der Petersdom ein Gesamtkunstwerk. In seinem Hauptportal liegt die Benediktionsloggia, der wohl berühmteste Balkon der Welt. Von hier aus spendet der amtierende Papst seinen Segen für die Gläubigen auf dem Petersplatz und in aller Welt.

Berliner Schloss

Architektur: Andreas Schlüter und andere

Auf der Spreeinsel im heutigen Berliner Stadtteil Mitte gelegen, war das Schloss von 1443 bis 1918 die Residenz der Hohenzollern. Im 18. Jahrhundert wurde es durch den Umbau des Architekten Andreas Schlüter zu einem Hauptwerk des Norddeutschen Barocks. Im Sommer 1914 sprach der damalige Kaiser Wilhelm II. zweimal vom Balkon an Portal V zu der davor versammelten Menschenmenge. Mit seinen sogenannten Balkonreden wollte er das Volk zu Beginn des Ersten Weltkriegs von der Notwendigkeit der militärischen Intervention überzeugen.

Hausfassaden Paris

Städtebau: Georges-Eugène Haussmann

Im Auftrag von Kaiser Napoleon III. trieb Baron Haussmann als Präfekt von Paris zwischen 1853 und 1870 die Restrukturierung der französischen Hauptstadt voran. Dafür schlug er Schneisen in die mittelalterliche Stadt und baute geradlinige Boulevards mit neuartigen Gebäuden. Er arrangierte bodentiefe Fenster mit Geländern als Fallschutz, sogenannte französische Balkone, in horizontalen Reihen entlang der Fassade. Durchgehende Balkonreihen waren meist auf der zweiten oder fünften Etage angeordnet. Hier konnte man sich zeigen, ohne selbst auf die Strasse zu treten.

Neues Rathaus, München

Architektur: Georg von Hauberrisser

Das Neue Rathaus am Marienplatz in München wurde in drei Etappen im neugotischen Stil erbaut. Seine fast 100 Meter lange Hauptfassade zum Marienplatz hin ist aufwendig mit Standbildern, Figuren, Wasserspeiern und allegorischen Bildern geschmückt. Balkone, Erker und Zinnen erzeugen eine Reliefwirkung. Ein Publikumsmagnet ist das Glockenspiel am Rathausturm. Doch besonders eng wird es auf den Marienplatz, wenn der FC Bayern München feiert. Dann tritt die gesamte Mannschaft auf einen der Balkone im ersten Stock und grüsst die jubelnden Fans.

Casa di Giulietta, Verona

Besitzer: Familie Dal Capello

Die Grundmauern des Hauses der Familie Dal Capello stammen aus dem Mittelalter. Wegen der Ähnlichkeit der Namen Capello und Capuleti mutmasste man lange, dies könnte das Geburtshaus der Julia aus William Shakespeares Drama «Romeo und Julia» sein. 1905 erwarb es die Stadt Verona und spann die Legende in den 1930er-Jahren mit dem Anbau eines stilechten Balkons weiter. Den Touristen ist es egal, ob die Kulisse echt ist oder nachgebaut. Sie kommen seit Jahrzehnten in Scharen.

Casa Batlló, Barcelona

Architektur: Antoni Gaudí i Cornet

Der berühmte spanische Architekt Antoni Gaudí wurde 1904 mit dem Umbau eines Hauses am Passeig de Gràcia 43 beauftragt. Bauherr war der Textilfabrikant Josep Batlló i Casanovas, dessen Name das Haus bis heute trägt. Es wurde zu einer Ikone des Modernisme. Seine schmiedeeiserenen Balkone, die an Totenköpfe erinnern sollen, sind wichtiger Bestandteil der aufwendig gestalteten Fassade. Das Haus wurde 2005 in die Liste des Unesco- Weltkulturerbes aufgenommen.

Bauhausgebäude, Atelierhaus / Prellerhaus, Dessau

Architektur: Walter Gropius

Zum berühmten Komplex, den Walter Gropius von 1925 bis 1926 für das Bauhaus in Dessau erstellte, gehört auch das Atelierhaus im Ostflügel mit 28 Wohnateliers für Studierende und Jungmeister. Jedes war 20 Quadratmeter gross und verfügte neben funktionalem Mobiliar auch über einen kleinen Balkon mit grau lackiertem Geländer. Die dicht an dicht aus der Fassade auskragenden Bauteile waren Motiv für viele historische Fotos, auf denen sich die Studierenden ablichten liessen. Heute kann man einige Zimmer mieten.

VM Houses, Kopenhagen

Architektur: Julien De Smedt, Bjarke Ingels Group, PLOT

Die zwei Wohnblöcke in Ørestad, einem Entwicklungsgebiet auf der Insel Amager, die zur Stadt Kopenhagen gehört, tragen ihre Namen nach ihrer Form: eines hat einen V-förmigen Grundriss, das andere einen M-förmigen. Sie waren die ersten grossformatigen Bauten, mit denen die jungen Architekten Bjarke Ingels und Julien De Smedt beauftragt wurden. Besonders ins Auge stechen die versetzt angeordneten, dreieckigen Balkone, die
mit Stahlstreben an der Metall-Glas-Fassade aufgehängt sind.

Bosco Verticale, Mailand

Architektur: Stefano Boeri, Giovanni La Varra, Gianandrea Barreca

In den letzten zehn Jahren entstand nördlich der Mailänder Innenstadt ein neues Quartier mit dem Namen Porta Nuova. Zentrum des Viertels ist ein öffentlicher Park, um den herum sich markante Hochhäuser gruppieren. Dazu gehören auch die zwei Türme des Bosco Verticale. In die Betonwannen auf ihren Balkonen wurden rund 900 Bäume gepflanzt, was einer Waldfläche von etwa 7000 Quadratmetern entspricht.

Wohnbaugenossenschaft Weberei / Chirchbuel, Zumikon

Architektur: GWJ Architektur

In Zumikon sollen Wohnungen für junge Familien zu einem günstigen Mietzins entstehen. Dafür wurde 2019 ein Investorenwettbewerb ausgeschrieben, den die Wohnbaugenossenschaft «Wir sind Stadtgarten» zusammen mit GWJ Architektur und den Landschaftsarchitekten S2L gewann. Die Planung sieht einen Baubeginn im Jahr 2022 vor. Projektiert sind drei Wohnhäuser, die sich durch bewusst gesetzte Aussenflächen sowie grosse Balkone auszeichnen. Damit sollen der Dialog und das Zusammenleben in der Genossenschaftssiedlung gestärkt werden.
(Dieses Projekt wurde von der Gemeindeversammlung Zumikon im Jahr 2021 abgelehnt)

Der Espresso am Morgen, vielleicht noch eine Zigarette. Das Feierabendbier und bei Gelegenheit ein romantischer Kuss unterm Sternenhimmel. Auf dem Balkon ist Platz für vieles. Mit Lounge und Grill ausgestattet ist er heute fast so wichtig wie das Wohnzimmer. Eine Wohnung mit Balkon ist mehr wert. Eine Wohnung ohne Balkon ist schwerer zu vermieten. Dabei sollte der Balkon möglichst gen Süden liegen und am besten auch nicht zur Strassenseite hin. Haben die Architekten keinen Sichtschutz vorgesehen, werden Schilfmatten aufgestellt oder Sonnensegel gespannt, um sich gegen die neugierigen Blicke der Nachbarn abzuschirmen.

Nur hundert Jahre früher war alles ganz anders. Wer einen Balkon betrat, der wollte gesehen werden. Am besten von möglichst vielen Menschen. Darum lagen Balkone immer zu Plätzen oder Strassen hin, dort, wo viel los war. Die Häuser mit den Balkonen waren gross und prachtvoll. In ihnen residierten Herrscher und Würdenträger, die dem Volk etwas zu sagen hatten. So wie Wilhelm II., Deutscher Kaiser. Seine berühmten Balkonreden über Portal V des Berliner Stadtschlosses fanden zu Beginn des Ersten Weltkriegs statt. Sie waren ein wirkungsvolles Mittel, um das im Sommer 1914 im vorgelagerten Lustgarten versammelte Volk vom Verteidigungsfall zu überzeugen.

Knapp 50 Jahre später nutzte jenseits des Atlantiks eine Frau die Wirkung ihres Auftritts wie keine Zweite ihrer Zeit. Eva Peron trat einem Hollywood-Star gleich auf den Balkon des Präsidentenpalastes in Buenos Aires, um zu den Massen auf der Plaza de Mayo zu sprechen. Mit ihrer politischen Propaganda unterstützte sie ihren Mann, den argentinischen Ministerpräsidenten Juan Peron. Die Casa Rosada, wie der Palast wegen seiner roten Fassadenfarbe auch genannt wird, ist bis heute eine der historischen Hauptattraktionen der Stadt. Wer deren Geschichte verstehen möchte, kommt hierher.

Architektur als Ausdruck gesellschaftlicher und politische Verhältnisse? Genau das proklamierte der niederländische Architekt und Pritzker-Preisträger Rem Koolhaas bei der Eröffnung der 14. Architekturbiennale in Venedig am 7. Juni 2014. Als Kurator der Hauptausstellung ≪Elements of Architecture≫ widmete er sich verschiedenen Versatzstucken von Gebäuden. Er definierte 15 – darunter die Wand, die Decke, den Boden, das Dach, die Fassade, die Treppe, Fenster und Türen, den Aufzug und eben auch den Balkon. Zusammen mit seinem Team gestaltete er Raume zu Erlebniswelten, in denen Architektur begreifbar wurde. Nicht mit der Mission, eine Zukunft vorauszusagen, sondern um den Blick auf die Vergangenheit und die Gegenwart zu schärfen. Sein Ziel: die Erkenntnis zu schaffen, dass Architektur nur auf den ersten Blick den Raum gestaltet, langfristig aber zivilisatorische Wirkung entfaltet. In diesem Kontext wurde der Balkon auch im Sommer 2014 in der Schau in den Giardini von Venedig zum politischen Symbol, von dem aus sich Kriege rechtfertigen, Völker aufhetzen, Republiken ausrufen lassen.

In der Moderne kam dem Balkon dann eine weit positivere Bedeutung zu. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts wandelte er sich im privaten Bereich mehr und mehr vom zum Hof gerichteten kleinen Küchenbalkon zum grosszügigen Freisitz, der heute als erweitertes Wohnzimmer möbliert und genutzt wird. Hier kann jeder zeigen, wie er lebt, welche Vorlieben er hat, und auch Flagge hissen – für sein Heimatland oder seinen Fussballclub.

Als auskragendes Element an der Fassade schmückte der Balkon schon Gebäude innerhalb der römischen Stadtmauern. Maenianum wurde er genannt. Das Wort Balkon hingegen kommt vom langobardischen Wort balko. In der alten islamischen Welt schloss man ihn mit verzierten Holzläden. Hier war oft der einzige Ort, wo Frauen am öffentlichen Leben teilhaben konnten. Der Alltag in den Burgen und Festungen im Mittelalter wurde innerhalb der schützenden Mauern begangen. Balkonkonstruktionen nutzte man für Verteidigungsanlagen, als Wehrgänge entlang der inneren Festungsmauern oder als steinerne Pechnasen nach aussen hin, durch die heisser Teer auf die Angreifer gegossen wurde.

Nicht erst seit der Romantik setzten Dichter und Schriftsteller den Balkon in ihren Werken als Ort ein, an dem sich Liebende anschmachten, aber nicht zueinander können. William Shakespeare liess 1597 in der Erstveröffentlichung von ≪Romeo und Julia≫ die zweite Szene im zweiten Akt noch an einem Fenster spielen. Ab dem 18. Jahrhundert stellte man Julia in Aufführungen dann aber auf einen Balkon, um Romeo ihre Liebe zu gestehen. Heute vermarktet die Stadt Verona geschickt ein Haus als angebliche Wiege des Dramas. Rund zwei Millionen Touristen besuchten es vor Coronazeiten jährlich.

An der Ausprägung der Balkone in einer Stadt lässt sich sogar der Charakter eines Volkes ablesen. Die vornehmen Franzosen erfanden einen Balkon, der eigentlich gar keiner ist, sondern nur ein raumhohes Fenster mit Brüstung. Am französischen Balkon gab man sich zu Zeiten Baron Haussmanns zurückhaltend. Frauen, die sich in der Öffentlichkeit aufhielten, galten als ordinär. Ganz anders die lebensfrohen Italiener: Auf ihren Balkonen wird die Wäsche aufgehängt und mit den Nachbarn palavert. Oder die temperamentvollen Spanier, die Balkone gerne mit bunten Kacheln und Blumen schmücken.

Selbst der Coronavirus hat seinen Weg in die Kulturgeschichte der Balkone gefunden. Wer erinnert sich nicht an die Bilder aus dem Frühjahr 2020, als Mailand im Lockdown war. Weil die Mailänder nicht auf die Strasse gehen durften, begannen sie, ihr Leben auf den Balkon zu verlegen. Sie kommunizierten, musizierten, protestierten. Ihr etwas anderes Dolcefarniente ging über die digitalen Kanäle um die ganze Welt und machte vielen in schwierigen Zeiten Mut. Damit wurde der Balkon ganz unverhofft erneut zur öffentlichen Bühne. Eine Bühne, die kollektiv oder auch mit einer ganz persönlichen Botschaft von jedem Einzelnen bespielt werden konnte. So etwas gab es bisher noch nicht.

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2021 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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