Klein, aber fein. Ein Blick auf die Geschichte des genossenschaftlichen Wohnungsbaus in der Schweiz

Die Schweiz ist ein Land von Mieterinnen und Mietern, hier leben weniger als 40 Prozent der Bevölkerung in den eigenen vier Wänden. Die Wohnbaugenossenschaften bieten besondere Qualitäten, sie bleiben allerdings marginal im gesamten Wohnungsmarkt. Im Kontext des rasanten Städtewachstums und prekärer Wohnverhältnisse – entstanden an der Schwelle zum 20. Jahrhundert – haben die schweizerischen Genossenschaften in den Perioden nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ihre Hochphasen erlebt. Nach dem Schock der Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre verlor die Bewegung stark an Schwung und hat sich erst jüngst wieder stärker belebt.

Zürich Friesenberg: Flugansicht von 1967. Im Bild Häuser der Familienheim-Genossenschaft, die hier bis heute in 25 Etappen rund 2300 Wohnungen erstellt hat. © ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv, Werner Friedli
Siedlungsgenossenschaft Freidorf in Muttenz: Zentraler Platz der Siedlung mit angrenzenden Mehrfamilienhäusern, gegenüber (angeschnitten) das grosse Gemeinschaftshaus mit Laden, Festsaal, Turnhalle, Restaurant und weiteren Gemeinschaftsräumen. © Gta Archiv / ETH Zürich, Hannes Meyer
Siedlungsgenossenschaft Freidorf in Muttenz: Der Lageplan aus der Publikation «Siedlungsgenossenschaft Freidorf» von 1922 gibt die strenge Anordnung der Siedlung wieder. © Gta Archiv / ETH Zürich, Hannes Meyer

Als Selbsthilfeorganisationen entstanden, treten Wohnbaugenossenschaften seit über einem Jahrhundert mit dem Anspruch auf, Wohnraum dauernd der Spekulation zu entziehen und den Gemeinschaftssinn zu befördern.1 Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften stellen heute in der Schweiz die wichtigsten Akteure des nicht profitorientierten Wohnsektors dar – noch vor den kommunalen Körperschaften. Genossenschafter sind Miteigentümer. Oft wird vom «dritten Weg im Wohnungsbau» gesprochen, der sich zwischen dem selbst bewohnten Wohneigentum und der Miete situiert und die Vorteile der beiden Formen verbinden soll. Die Mitglieder erwerben Anteilsscheine, die ihnen Mitspracherechte garantieren und sie vor Kündigungen schützen. Die Wohnbaugenossenschaften verpflichten sich in der Regel auf das Prinzip der Kostenmiete, wodurch die Mieten gemäss Daumenregel rund 15 bis 25 Prozent unter dem Durchschnitt liegen.2 Sie traten und treten ausserdem mit dem Anspruch an, mehr als nur ein Dach über dem Kopf zu bieten. «Es soll nicht allein nur genossenschaftlich gebaut werden, nein, auch das Wohnen, der Verkehr von Mensch zu Mensch soll weiterhin in genossenschaftlichem Sinne gepflegt und gefördert werden», so resümierte es der Basler Genossenschafter Walter Ruf 1930.3 Eine Ansicht, die auch vier Jahrzehnte später durch den Genossenschafter Ferdinand Kugler vertreten wurde. Während die Gründung der Genossenschaften meist aus dem Bestreben erfolge, preisgünstigen Wohnraum zu schaffen, so Kugler, würden sie auch ideelle Ziele verfolgen, «nämlich die Idee der genossenschaftlichen Zusammenarbeit zu verwirklichen und gleichzeitig die erstellten Wohnungen und Häuser für immer der Spekulation zu entziehen.»4 Lange bedeutete das auch, bürgerliche, hygienische und sittenmoralische Vorstellungen durchzusetzen. Die Mitglieder sollten zur Hygiene, zu einem sittlichen Familienleben und zu rechtschaffenen Bürgern erzogen werden. Die Zeiten ändern sich, und die Genossenschaften haben inzwischen die paternalistisch unterfütterte Moralität abgelegt. Der Dienst an der Gesellschaft bleibt aber ein zentrales Anliegen. Es gehört bis heute zum Selbstverständnis, das gemeinschaftliche Zusammenleben zu fördern und in den neuen Mustersiedlungen innovative städtebauliche, ökologische und soziale Lösungen zu exemplifizieren.

Der Genossenschaftsfunktionär und Zürcher Stadtrat (SP) Adolf Maurer sprach 1969 von gemeinnützigen Baugenossenschaften als einem «urschweizerischen Element», um ihre Ausrichtung zu umschreiben.5 Tatsächlich stellen sie im Grunde eine für die Schweiz typische öffentlich-private Mischlösung des Wohnungsproblems dar. Die Genossenschaften verpflichten sich statuarisch, dauerhaft preisgünstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, agieren aber als private Selbsthilfeorganisationen losgelöst und, zumindest im Prinzip, unabhängig von der öffentlichen Hand, auch wenn sie vielfach bei Neubauprojekten auf öffentliche Hilfen angewiesen sind.

Die Präsenz der Genossenschaftsbewegung in den öffentlichen und politischen Debatten der letzten Jahre darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem gemeinnützigen Sektor in der Schweiz insgesamt eine marginale Rolle zukommt. Die Schweiz ist ein Land von Mieterinnen und Mietern. Die Mehrheit mietet, und zwar meist Wohnungen von renditeorientierten Anbietenden. Sehen wir von Ausnahmen wie der Hochburg Zürich ab, wo Genossenschaften etwa einen Fünftel des Wohnungsbestands besitzen und ganze Quartiere prägen, blieb der genossenschaftliche Einfluss beschränkt. Schweizweit sind je nach Schätzung rund vier bis fünf Prozent des Gesamtbestands im Besitz solcher gemeinnütziger Selbsthilfeorganisationen. Blicken wir auf die letzten fünfzig Jahre zurück, ist sogar festzustellen, dass ihr Anteil abgenommen hat.

Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft ZBWG, Sonneggstrasse, Zürich, in einer Grafik von 1893. © Zeitschrift «Wohnen», Ausgabe Juli / August 2016

Die Anfänge des genossenschaftlichen Wohnungsbaus

Die ersten gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert im Kontext der Industrialisierung und der Urbanisierung. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich von England um den Erdball ausbreiteten und die Schweiz früh ergriffen, gingen mit einem rasanten Wachstum der Städte einher. In den spektakulären – und oft spekulativ getriebenen – Wachstumsphasen sprengten sie die Grenzen der engen mittelalterlichen Stadtmauern und wuchsen schnell in die umliegenden Landschaften hinaus. Wohnungsbau war dabei eine privatwirtschaftliche Angelegenheit. Von gewieften Gelegenheitsspekulanten über die meist kleinen bis mittleren Baumeisterbetriebe bis hin zu Terraingesellschaften bauten zahlreiche Hände an den neuen Quartieren und stampften in atemberaubendem Tempo neuen Wohnraum für die mobilen und meist mittellosen zuziehenden Arbeitssuchenden vom Land aus dem Boden. Während die Entwicklung in den wohlhabenden Quartieren und Vororten, an den mondänen Boulevards und in den Verwaltungsbezirken verhältnismässig geordnet verlief, prägten prekäre bauliche und hygienische Zustände sowie dicht belegte Wohnungen das Bild der Unterschichtenquartiere. Die Wohnungsfrage entwickelte sich zu einem zentralen Problem der sozialen Frage, das in Reformbewegungen grenzübergreifend debattiert wurde. In weiten Kreisen von links bis rechts löste die unübersehbare soziale Ungleichheit der rasch gewachsenen liberalen Städte des 19. Jahrhunderts ein Unbehagen aus. In den vergleichsweise kleinen Schweizer Städten nahmen die Zustände zwar nie die katastrophalen Verhältnisse an wie in Grossstädten manch anderer Industrieländer, doch auch in der Schweiz zeugten beengende Mietshäuser in Blockrand­überbauung, Gewerbe- und Industriebetriebe in Wohnnähe und schmutzige Strassenzüge vom Elend breiter Schichten. Die Arbeiterquartiere galten den Eliten und Reformkreisen als sittenlose Herde für Seuchen und weckten Ängste vor sozialen Unruhen.6

In diesem Kontext griffen die Gemeinden zunehmend in die ­Entwicklung ein. Sie reglementierten den Städtebau über Bauordnungen, erstellten neue Infrastrukturen, bauten Repräsentationsbauten und legten Strassen, Gas- und Wasserleitungen sowie Kanalisationen an, um die schlechten hygienischen Bedingungen zu verbessern. Gegen die Jahrhundertwende gingen die Verwaltungen in Städten wie Bern, Genf oder Zürich zudem dazu über, kommunale Wohnungen zu bauen, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken.

Diesen – bescheidenen – kommunalen Versuchen ging bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Erstellung von Mustersiedlungen grossbürgerlicher Akteure und von Selbsthilfeorganisationen voraus. Philanthropische Kreise aus dem Bürgertum und Unternehmen der neuen Grossindustrien bauten erste kostengünstige und gesunde Arbeiterwohnungen, und Arbeiter schlossen sich in Selbsthilfeorganisationen zu Aktien- und Baugesellschaften zusammen, um mit vereinten Kräften selbst den Bau von Wohnungen zu stemmen. Die ersten eigentlichen gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften entstanden gegen Ende des Jahrhunderts. Eine Pionierrolle kam den Eisenbahnern zu, die mithilfe der Pensionskasse der Schweizerischen Bundesbahnen SBB genossenschaftliche Wohnhäuser erstellten. Frühe Beispiele von Gründungen stellten die Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft ZBWG (1892) und die Basler Wohnbaugenossenschaft (1900) dar.

Insgesamt blieben die Bemühungen zur Verbesserung der Wohnverhältnisse aber kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heissen Stein. Der Bestand der Wohnungen gemeinnütziger und öffentlicher Träger blieb überschaubar. Zudem waren es vor allem Familien von Facharbeitern und Angestellten, die in die preisgünstigen Musterwohnungen einzogen, während die Schichten, die in besonders ärmlichen und beengten Verhältnissen lebten, kaum Zugang erhielten.7

In diesen Jahren etablierten sich Wohnbaugenossenschaften zaghaft zu beachteten Akteuren des nicht profitorientierten Wohnungssektors, doch fiel die erste Hochphase des genossenschaftlichen Wohnungsbaus erst in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.

Siedlungsgenossenschaft Freidorf in Muttenz: Flugperspektive auf die Gesamtanlage. © Gta Archiv

Kriseninterventionen und Genossenschaftsboom

Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte in zahlreichen Ländern der industrialisierten Welt zum eigentlichen Startpunkt einer zentralstaatlichen Wohnungspolitik. Die Schweiz stellte keine Ausnahme dar, da breite Bevölkerungsschichten unter Armut litten und sich eine problematische Wohnungsnot herausbildete. Der Pfarrer, Sozialreformer und sozialdemokratische Zürcher Stadtrat Paul Pflüger beschrieb die Situation 1920 in dramatischen Worten: «Der Mangel an Wohnräumen hat eine Überfüllung der Wohnungen, eine Zusammenpferchung der Menschen (…) zur Folge. In alle Ritzen und Löcher schlüpfen obdachlose Menschen hinein. (…) Jugendverwahrlosung, Prostitution und Alkoholismus stehen in engem Zusammenhang mit der Wohnungsnot.» «Von der Lösung der Wohnungsfrage», so Pflüger, hänge «die weitere Zukunft ab. Die Wohnungsnot bildet einen bleibenden Explosionsherd für soziale Unruhen.»8

Die hohe Kriegsinflation, materielle Not und soziale Spannungen, die 1918 im Landesstreik implodierten, sowie der Zusammenbruch der Neubautätigkeit bewogen den Bundesrat in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, erstmals umfassend wohnungspolitisch aktiv zu werden – und in eine Domäne zu intervenieren, die bis anhin als eine privatwirtschaftliche und kommunale Aufgabe angesehen wurde. Der Bund baute ab 1917 den Kündigungsschutz aus, regulierte die Mietpreise und förderte ab 1919 den Neubau. Bis Mitte der 1920er-Jahre unterstützte er den Bau von rund 18 000 Wohnungen, was mehr als der durchschnittlichen Jahresproduktion entsprach. Diese Unterstützungen, die auch von privaten Trägern beantragt werden konnten und kantonal organisiert wurden, beförderten den ersten Genossenschaftsboom, der dann später nach der Einstellung der Bundessubventionen durch die städtischen Unterstützungen weitergetragen wurde. Die Stadtregierungen bauten teilweise zwar auch in Eigenregie kommunale Wohnungen, unterstützten aber insbesondere gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften, die zu wichtigen städtebaulichen Partnern avancierten. In der Deutschschweiz war eine Gründungswelle zu beobachten, und 1919 konstituierte sich der genossenschaftliche Dachverband «Schweizerischer Verband zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus» unter dem Präsidium von Emil Klöti, dem einflussreichen Wohnungspolitiker und sozialdemokratischen Bauvorsteher der Stadt Zürich. Dem – vornehmlich männlichen – Vorstand gehörten neben schillernden Reformern und Architekten wie Hans Bernoulli oder Camille Martin namhafte sozialdemokratische und bürgerliche Vertreter der Exekutiven und Verwaltungen sowie Vertreter des (philanthropischen) Bürgertums und der Grossindustrie an. Im Gegensatz zum kommunalen Wohnungsbau, der vor allem in linken Kreisen befürwortet wurde, stiessen Wohnbaugenossenschaften bis in bürgerliche Kreise hinein auf Sympathien. Die Förderung von gemeinnützigen, aber privaten genossenschaftlichen Selbsthilfeorganisationen liess sich besser mit den Grundsätzen der liberalen Wirtschaftsordnung vereinbaren als der Bau von Wohnungen im öffentlichen Besitz.9

Die Zentren des genossenschaftlichen Wohnungsbaus stellten der Stadt-Kanton Basel sowie insbesondere das rote Zürich dar. Die Siedlungen jener Jahre waren durch die Ideale der Gartenstadt geprägt. Für die Zürcher Genossenschaftspionierin Dora Staudinger war 1918 «von jedem Gesichtspunkt aus, sei es vom gesundheitlichen, sei es vom ästhetischen, vom kulturellen, sozialen und vor allem vom ‹zukunftswirtschaftlichen› Standpunkt aus, die einheitliche Gartenstadt-Siedlung ausserhalb der Grossstadt» zu bevorzugen. Hier liessen sich das «Einfamilienhaus, der Garten, das genossenschaftliche Wohnen» am besten verwirklichen.10

Dezentrale Siedlungen entsprachen jedoch oft nicht den Bedürfnissen nach Wohnungen in Arbeitsnähe, und das Ideal des Einfamilienhauses mit Pflanzgarten zur Selbstversorgung liess sich auf den begrenzten Flächen der urbanen Zentren selten verwirklichen. Tatsächlich wurden die Siedlungen jener Jahre in den Städten meist als geschlossene und einheitlich gestaltete, mehrgeschossige Überbauungen sowie als durchgrünte Siedlungen in offener Zeilenbauweise an den Stadträndern erstellt. In den «Kolonien» kam man den Forderungen nach «Licht, Luft und Sonne» nach und integrierte Frei- und Begegnungszonen. Die Wohnungen waren einfach, aber zweckmässig ausgestattet.

Als glänzendes Vorbild galt die Siedlungsgenossenschaft Freidorf, die der Verband Schweizerischer Konsumvereine VSK (die heutige Coop) zwischen 1919 und 1921 nach den Plänen des Reformarchitekten Hannes Meyer bei Muttenz erstellte und die weit über die Landesgrenzen hinaus grosse Beachtung erhielt. Das Projekt stellte die Gegenthese zu den verrufenen, dicht belegten städtischen «Mietskasernen» in Blockrandüberbauung dar. Im Freidorf wurde die Utopie des genossenschaftlichen Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus modellhaft erprobt. Die idealtypisch und klar strukturierte Gartensiedlung mit 150 (Reihen-)Einfamilienhäusern und Pflanzgärten wurde auch mit Gemeinschaftsräumen und eigenem ACV-Laden ausgestattet. Der Gemeinschaftssinn wurde hochgehalten, und das Sozialleben der Bewohnerinnen und Bewohner war weitreichend organisiert.

Während die bundesstaatlichen Kriseninterventionen Mitte der 1920er-Jahre aufgehoben wurden, förderten verschiedene Städte während des zu dieser Zeit einsetzenden Neubaubooms weiterhin neue Siedlungen und trugen den genossenschaftlichen Wohnbauboom. Anfang der 1930er-Jahre, mitten in der Grossen Depression, welche die Weltwirtschaft ab 1929 erschütterte, brach der Neubau dann aber brutal ein. In Anbetracht hoher Leerwohnungsbestände und seiner restriktiven und zaghaften Arbeitsbeschaffungsmassnahmenpolitik verweigerte der Bund diesmal Stützungsmassnahmen zugunsten des Wohnungsbaus. Das änderte sich erst nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

ABZ-Genossenschaftssiedlung Im Herrlig in Zürich Altstetten: Zeittypische Mehrfamilienhäuser der Nachkriegszeit mit 2- bis 5-Zimmer-Wohnungen, um unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden und eine soziale Durchmischung in der Siedlung zu fördern. © Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Walter Läubli
Genossenschaftssiedlung Obermatten der Rotach und der ASIG in Rümlang: Lageplan der Siedlung aus 2 achtgeschossigen Punkthochhäusern, 10 Längswohnblöcken mit drei bis fünf Geschossen und 22 eingeschossigen Atriumhäusern. © ETH-Bibliothek, Zürich, Siedlung Obermatten Rümlang, Zeitschrift «Wohnen», Band 38, 1963
Genossenschaftssiedlung Obermatten der Rotach und der ASIG in Rümlang: Die Atriumhäuser im Vordergrund setzen sich deutlich von den höhergeschossigen Wohnhäusern ab. © ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv, Werner Friedli

Zentralstaatliche Eingriffe und zweiter genossenschaftlicher Bauboom

Der Kriegsausbruch wirkte in der Schweiz wie in zahlreichen europäischen Ländern als Katalysator, der zentralstaatlichen Eingriffen in die Wohnungsmärkte einen neuen Schub verlieh. In der Schweiz folgte eine kurze, von 1939 bis 1950 dauernde Schlüsselperiode der Wohnungspolitik, in welcher der Bund unter dem Vollmachtenregime in vorher und nachher nie mehr gesehenem Ausmass in die Siedlungsentwicklung eingriff.

In den ersten Kriegsjahren brach der Neubau aufgrund düsterer Renditeaussichten und der Verknappung und Verteuerung von Arbeitskräften und Baumaterialen ein, und es entwickelte sich eine prekäre Wohnungsnot. Der Bund reagierte, indem er den Wohnungsmarkt erneut einer umfassenden Regulierung unterstellte. Er verschärfte den Mieterschutz und die Preiskontrolle, rationierte die knappen Baustoffe und läutete 1942 zur Bekämpfung der Wohnungsnot und als Arbeitsbeschaffungsmassnahme widerwillig und zähneknirschend eine grosse Wohnbauförderaktion ein, die bis 1949 fortgeführt wurde. In drei Wohnbauaktionen unterstützte er den Bau von rund 82 000 Wohnungen. Auf dem Höhepunkt wurden durch den Bund, die Kantone und die Gemeinden mehr als zwei Drittel des Neubaus unterstützt und Subventionen à fonds perdu bis zu 45 Prozent der Erstellungskosten gewährt. Die Subventionen konnten nicht nur von gemeinnützigen, sondern (unter Auflagen) auch von renditeorientierten Trägern beantragt werden, die etwas mehr als die Hälfte aller subventionierten Wohnungen erstellten. Der kommunale Wohnungsbau blieb marginal, während die gemeinnützigen Genossenschaften etwas weniger als die Hälfte der subventionierten Wohnungen bauten.

Die Wohnbauaktionen läuteten in der Deutschschweiz den zweiten genossenschaftlichen Wohnbauboom ein. In zahlreichen mittleren und grösseren Städten etablierten sich die Genossenschaften als bedeutende Akteure auf dem Wohnungsmarkt, wobei relativierend festzustellen ist, dass deren Anteil kaum je einen Zehntel des Gesamtbestands überschritt. Eine der wenigen Ausnahmen ­bildete erneut Zürich, wo Wohnbaugenossenschaften die Entwicklung von Quartieren deutlich prägten. In der Westschweiz und im Tessin konnten sich die Genossenschaften demgegenüber nicht als wichtige Akteure etablieren.

Das Ideal der Genossenschaften, das Einfamilienhaus mit Pflanzgarten, liess sich auf den teuren Böden der wachsenden urbanen Räume nicht «restlos verwirklichen», weshalb man sich in «vielen Fällen mit Kompromissen begnügen» musste, wie der bereits erwähnte Emil Klöti 1944 feststellte.11 Zusammenhängende, differenzierte und durchgrünte Siedlungen in offener Bauweise wurden das Mass der Dinge, an dem sich die Genossenschaften und ihre Architekten in der Kriegs- und Nachkriegszeit orientierten. Zweistöckige Reihenhäuser und drei- bis viergeschossige Wohnblocks in schlichter, aber sauberer Ausführung mit Satteldächern, Putz und Blumenfenstern prägten im Zeitgeist die Überbauungen.

Ein sprechendes Beispiel stellte die Siedlung Im Herrlig der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich ABZ dar, die zwischen 1946 und 1948 in Altstetten entstand. Die grösste Genossenschaft Zürichs erstellte hier nahe dem Bahnhof in lockerer Zeilenbauweise insgesamt 217 Wohnungen – für Schweizer Verhältnisse ein grosses Projekt. Das Architekturbüro Aeschlimann & Baumgartner richtete die einfach, aber komfortabel ausgestatteten Wohnungen in dreigeschossigen Mehrfamilien- und zweigeschossigen Reihenhäusern auf optimale Besonnungsverhältnisse aus und sorgte für grosszügige Grünflächen. Die Siedlung verfügte zudem über einen Lebensmittelladen, eine Metzgerei sowie ein grosses Gemeinschaftslokal, um den Gemeinsinn aktiv zu fördern. Die Stadt ehrte die Mustersiedlung mit einer Auszeichnung. Dass die Kolonie in den Augen des Stadtrats ein Erfolg war, vermag wenig zu erstaunen, war er doch früh in die Planung einbezogen und hatte den Bau grosszügig unterstützt. Die Stadt gab der ABZ billiges Bauland ab, gewährte Hypotheken und sprach Subventionen, bedingte sich im Gegenzug aber Mitbestimmungsrechte aus. Diese enge öffentlich-private Zusammenarbeit war typisch für die Jahre des subventionierten Wohnungsbaus zwischen 1942 und 1949. Die Wohnbaugenossenschaften avancierten in Zürich zu eigentlichen ausführenden Organen des Hochbauamts und seines Vorstehers, dem Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner, um den rasanten Stadtumbau zu bewerkstelligen.

Genossenschaftssiedlung Im Herrlig der ABZ in Zürich Altstetten: Lageplan. © Maurizio, Julius: Der Siedlungsbau in der Schweiz 1940–1950, Erlenbach 1952, S. 125
Genossenschaftssiedlung Im Herrlig der ABZ in Zürich: Fotografie aus der Zeit der Erstellung. © Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Hugo Paul Herdeg

Bedeutungsverlust während des Wohnbaubooms der Nachkriegszeit

Der zweite genossenschaftliche Wohnbauboom endete nach 1950 abrupt. Mit dem Kriegsende wuchs die Kritik an den Interventionen in den Wohnungsmarkt, und die Wohnbauförderung des Bundes stiess auf zunehmende Widerstände aus der privaten Wohnwirtschaft und der Bundesverwaltung selbst. 1949 ergriff der Schweizerische Grund- und Hauseigentümerverband das Referendum gegen eine befristete Weiterführung der Förderaktion. Obwohl die Vorlage die beiden Kammern des Bundesparlaments problemlos passiert hatte und durch alle Bundesratsparteien mit Ausnahme der FDP unterstützt wurde, lehnten die Stimmbürger die Weiterführung der bundestaatlichen Wohnbauförderung im Januar 1950 mit 54 Prozent Nein-Stimmen ab. Das Verdikt hatte weitreichende Auswirkungen. Während die meisten Länder der westlichen Welt in der Nachkriegszeit entweder den sozialen Wohnungsbau oder den Zugang zu Wohneigentum stark förderten, zog sich der Bund bereits 1950 wiederum stark aus der Wohnbauförderung zurück.

Ohne Bundessubventionen waren die Kantone und Gemeinden finanziell nicht mehr in der Lage oder willens, die Unterstützung im selben Umfang aufrechtzuerhalten. Der präzedenzlose Wohnbauboom der Hochkonjunktur, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und bis zur Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre anhielt, wurde durch privatwirtschaftliche Akteure getragen und war auf den renditeorientierten Mietmarkt ausgerichtet. Die Genossenschaften beteiligten sich zwar am Bauboom, der sich zunehmend von den Zentren in die Agglomerationsräume und die Klein- und Mittelstädte verschob, ihr Anteil an der Neubautätigkeit war aber bescheiden. Für sie wurde es deutlich schwieriger, Neubauprojekte zu stemmen. Der Bund führte zwar ab 1958 wiederum ein moderates Förderprogramm ein, die Hilfen waren aber nicht mehr mit denen der Wohnbauaktionen der 1940er-Jahre vergleichbar.

In Anbetracht der zurückhaltenden Politik der öffentlichen Hand waren es private Entwickler, die den Wohnbauboom als «inoffizielle Planer»12 prägten, wie es die Raumplanungsforscherin Martina Koll-Schretzenmayr formuliert hat. In den drei Jahrzehnten der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg verdoppelte sich der Wohnungsbestand, und das Landschaftsbild der Schweiz wurde regelrecht umgebaut. Die Siedlungsräume dehnten sich in die periurbanen Regionen aus, entlang der Verkehrslinien entstanden im Einzugsgebiet der Zentren unzählige neue Überbauungen, und ehemals bäuerlich geprägte Dörfer wandelten sich zu Schlafstädten der in die Zentren pendelnden Bewohnerinnen und Bewohner. Die Moderne hielt Einzug in die Architektur, Hochhäuser und teils in Vorfabrikation erstellte Grosssiedlungen in den Agglomerationsräumen wurden zum Inbegriff der Nachkriegszeit.13

Auch wenn der Grosssiedlungsbau in der Schweiz nie die Dimensionen wie in anderen europäischen Ländern annahm, gewann er diskursiv und praktisch stark an Bedeutung. Progressive Architektinnen und Architekten trachteten nach der Anknüpfung an die internationale Moderne und dachten in neuen Massstäben und Höhen, und auf der verzweifelten Suche nach pragmatischen Lösungen fanden Grosssiedlungen Eingang in die Debatten und die Praxis des preisgünstigen Wohnungsbaus. Zuerst in der West- und dann in der Deutschschweiz erprobten Architektinnen und Architekten im Auftrag öffentlicher und privater Bauherren den industrialisierten Grosswohnungsbau.

Auch im genossenschaftlichen Wohnungsbau verabschiedete man sich zunehmend von den heimeligen Ensembles mit ihren zwei- bis viergeschossigen Zeilenbauten. Auf den grünen Wiesen an den Rändern der urbanen Zentren entstanden stattdessen durchgrünte, moderne Überbauungen. Indem die Planer in den Siedlungen vier- bis zwölfgeschossige Wohnblöcke, Scheiben- und Punkthochhäuser sowie niedrigere Terrassen- und Reihenhäuser miteinander kombinierten, durchbrachen sie die beklagte biedere Monotonie der ehemaligen Mustersiedlungen und schufen Platz für grosszügige Aussenräume. Bekannte grosse Überbauungen waren – neben kleineren genossenschaftlichen Siedlungen – das Tscharnergut (1958–1965) in Bern Bümpliz oder die Cité du Lignon (1962–1971) in Vernier bei Genf.

Ein frühes Beispiel solcher Ensembles stellt die Siedlung Obermatten dar, welche die (bürgerliche) Baugenossenschaft Rotach und die (sozialdemokratische) Arbeiter-Siedlungs-Genossenschaft ASIG zwischen 1958 und 1963 gemeinsam in der Zürcher Vorortsgemeinde Rümlang in unmittelbarer Nähe zum Flughafen Kloten erstellten. Das Projekt gestaltete sich alles andere als einfach. Die federführende Rotach verbrachte Jahre, um auf dem überhitzten Zürcher Bodenmarkt ein geeignetes und bezahlbares Grundstück zu finden, und ohne die hohen Bundessubventionen der 1940er-Jahre erwies sich die Finanzierung als schwierig. Mit Krediten auf dem regulären Kapitalmarkt und Unterstützungen des Kantons und der Gemeinde Zürich gelang es den Genossenschaften schliesslich, die finanziellen Mittel aufzubringen. Sie erstellten nach den Plänen des Architekturbüros Walter Gachnang & Sohn eine moderne Gartensiedlung mit 292 Wohnungen. Statt der sauber aufgereihten Zeilenbauten der Siedlung Im Herrlig aus den 1940er-Jahren entstand eine differenziert komponierte Überbauung mit eingeschossigen Atriumhäusern, drei- bis fünfgeschossigen Längswohnblöcken sowie zwei achtgeschossigen Punkthochhäusern. Die modernen, minimalistischen Bauten mit Flachdach wurden versetzt angeordnet und liessen im Zentrum Platz für eine grosse Spielwiese. Die standardisierten Grundrisse der traversierenden Wohnungen wiesen den zeitgemässen Komfort für gestiegene Ansprüche auf. Die Überbauung, für die auch ein Gemeinschaftsraum und ein öffentlicher Kindergarten einplant worden waren, wurde teilweise bereits mit Fertigelementen erstellt. Trotz vor Ort vorfabrizierten Elementen und starker Normierung blieb auf der Baustelle insgesamt aber wie oft in der Schweiz vieles Handwerksarbeit. Günstiges Bauland, Standardisierung und öffentliche Unterstützungen erlaubten Mietpreise, die eklatant unter den Durchschnittsmieten vergleichbarer Objekte in der Stadt Zürich lagen.

Genossenschaftssiedlung Obermatten der Rotach und der ASIG in Rümlang: Im Vordergrund die Atriumhäuser. © Archiv ZHdK, Art Ringger, 1967

Kritik an den Siedlungen der Hochkonjunktur

Solche Grossüberbauungen im Grünen gerieten in den 1960er-Jahren in den Sog einer breiten Kritik an der stürmischen Entwicklung der Hochkonjunktur. Trotz rekordhoher Neubautätigkeit konnte das Wohnungsproblem nicht gelöst werden, und die Wohnungsfrage entwickelte sich, wie es der freisinnige Bundesrat Ernst Brugger 1970 ausdrückte, zum «Politikum Nr. 1»14, in dem die Schattenseiten der Hochkonjunktur deutlich zutage traten. Anhaltende Wohnungsnot und steigende Mietkosten, die Spekulation mit Grund und Boden, die Verdrängung angestammter Bevölkerungskreise im Zuge der Neuüberbauungen in den Innenstädten und die ausufernde Siedlungsentwicklung in die Breite auf Kosten des Natur- und Kulturlandes weckte von links bis rechts tiefgreifende Ängste und Widerstände. Die Rede von einer «Krise der Stadt» machte länderübergreifend die Runde.

Als Sündenböcke galten vielfach Bauunternehmen, denen Spekulation und Gewinne auf Kosten des Gemeinwohls vorgeworfen wurden. Kumulationspunkt der Kritik am Wohnungsbau im Kapitalismus bildete im Sommer 1972 die Siedlung Sunnebüel des Generalunternehmers und Vorreiters der industriellen Vorfabrikation Ernst Göhner, der im Einzugsgebiet Zürichs auf ehemaligen Landwirtschaftsflächen zahlreiche Grosssiedlungen aus dem Boden stampfte.15 Aus heutiger Sicht erstaunt das Feindbild Göhner. Die Göhner-Siedlungen sind mittlerweile rehabilitiert, und die Mietpreise waren für damalige Verhältnisse günstig. Um 1970 boten sich die serielle Fertigbauweise, die Grösse des Generalunternehmens und das oft harsche Vorgehen jedoch geradezu an als Sinnbild des ungestümen Wachstums mit all seinen negativen Folgeerscheinungen.

Siedlung Zelgliacker der Gemiwo in Windisch: Die kleine Siedlung besteht aus zwölf Wohneinheiten in Reihen und zentralem, verkehrsfreiem Gemeinschaftsraum. © Zeitschrift «Wohnen», Ausgabe Dezember 2021, Thomas Bürgisser, Metron
Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich: Gesamtansicht der grossen Strassenrandsiedlung mit vom Verkehrslärm abgeschirmtem Innenhof. © Genossenschaft Kalkbreite, Martin Stollenwerk
Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich: Hof und Dachterrassen der Überbauung bilden einen begrünten Park, der grosszügige Begegnungszonen bietet. © Genossenschaft Kalkbreite, Volker Schopp
Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite, Zürich: Ansicht von der Badenerstrasse aus. © Genossenschaft Kalkbreite, Volker Schopp

Entwicklung nach dem Boom

Mit der Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre endete das drei Jahrzehnte anhaltende Wirtschaftswunder. Die Wirtschaftskrise markierte auch den Schlusspunkt des präzedenzlosen Wohnbaubooms. Durch die Krise und nicht zuletzt aufgrund des Exports der Arbeitslosigkeit im Rahmen der umstrittenen Ausländerpolitik des Bundes standen nun nach einer langen Phase prekären Wohnungsmangels plötzlich viele Wohnungen leer. Unter den Vorzeichen der einbrechenden Nachfrage und den sich verschlechternden Bedingungen auf dem Kapitalmarkt trübte sich die Baulust der Genossenschaften wie der privaten Entwickler merklich ein. Das noch 1974 verabschiedete Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz (WEG) gab dem wenig Gegensteuer. Das WEG war ein Gesetz der Hochkonjunktur. Die Hilfen waren auf die Grosssiedlungen in den grünen Agglomerationsgürteln zugeschnitten und beruhten auf der Annahme anhaltenden Wirtschaftswachstums. Die Hochphase des Grosssiedlungsbaus und der Glaube an ein grenzenloses Wirtschaftswachstum erhielten Risse.

Die Kritik an der modernen Stadt überdauerte die Krise der 1970er-Jahre. «Stadtkritik statt Zukunftseuphorie, Bewahrung und Freiräume statt Modernisierung und radikaler Umbau» lautete das Credo breiter Kreise von der Heimatschutzbewegung über die Architekturzirkel bis hin zur alternativen Linken. Auch wenn Bewohnerinnen und Bewohner, wie Umfragen immer wieder zeigten, selbst gern in den Siedlungen wohnten, kippte das Image von Grosssiedlungen und Wohnhochhäusern deutlich ins Negative, während der Altbestand aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert diskursiv stark aufgewertet und als Gegenthese zu den angeblich seelenlosen seriellen Neubauten stilisiert wurde.16

Die Genossenschaften bekundeten Mühe, sich den veränderten Kontexten anzupassen. Nicht nur die Krise, sondern auch der Umgang mit den Trends zu mehr Einzel- und jungen Paarhaushalten sowie Wohngemeinschaften forderte sie heraus. Selbst noch oft in traditionellen Idealen der Kernfamilie (mit dem männlichen Familienoberhaupt und dem Schweizer Pass) verhangen, fiel es ihnen schwer, sich von althergebrachten Vorstellungen zu lösen. Meistens beschränkten sie sich darauf, ihren Bestand zu erhalten und zu verwalten. Neu gegründete Genossenschaften aus Kreisen der jungen akademischen Mittelschicht erstellten tendenziell kleinere Überbauungen, wo sich das nach­barschaftliche Wohnen besser verwirklichen liess. Ein stark beachtetes Beispiel war die 1981 fertiggestellte Reihenhaussied­lung Zelgliacker der Gemeinnützigen Mietwohn AG Gemiwo in Windisch.

In den 1980er- und 1990er-Jahren begannen sich erste traditionelle Wohnbaugenossenschaften für die neuen Wohnbedürfnisse zu öffnen, und eine neue Generation von Genossenschafterinnen und Genossenschaftern trat mit neuem Selbstverständnis und Anspruch an. In der Folge gewann der gemeinnützige Wohnungsbau zusehends an Schwung und erlebte im neuen Jahrtausend eine ­merkliche Wiederbelebung. Gemeinnützige Genossenschaften bauten insbesondere in urbanen Zentren wiederum in grösseren Mass­stäben, und die neue Generation experimentierte mit alternativen Wohnformen, verschrieb sich städtebaulichen, sozialen, ökologischen Zielen und erprobte neue Formen partizipativer Mitbestimmung.

Die Wiedererstarkung der Genossenschaften fiel in eine Zeit der Wiederentdeckung städtischer Qualitäten. Nach einer Phase der Suburbanisierung und dem Exodus aus den urbanen Zentren gewannen die Städte wieder an Attraktivität, und die Bevölkerungszahlen stiegen an. Den Genossenschaften kamen dabei unter dem Eindruck angespannter städtischer Mietmärkte und der Gentrifizierung zwei Entwicklungen zugute. Einerseits veränderte die Deindustrialisierung die Stadtstrukturen, und mit frei werdenden Flächen boten sich neue städtebauliche Möglichkeiten. Als Reaktion darauf, dass die direkten Bundesunterstützungen Anfang der 2000er-Jahre weitgehend eingestellt wurden, nahmen anderseits im Zuge der politisch aufgeladenen Stimmung die öffentlichen Unterstützungen in verschiedenen Städten, insbesondere in solchen mit linken Mehrheiten, wieder zu. Seit den 2010er-Jahren sind zahlreiche lokale Initiativen eingereicht worden, die dem genossenschaftlichen Wohnungsbau Rückenwind gegeben haben.17

Ein jüngeres Beispiel der neuen Generation von Genossenschaften stellt die viel beachtete, 2007 gegründete Genossenschaft Kalkbreite dar, die in Zürich an der Schnittstelle der Stadtkreise 3 und 4 bis 2014 eine gemischt genutzte Überbauung realisierte. Die Siedlung steht über der Tramabstellanlage der Verkehrsbetriebe Zürich, auf deren Dach ein grosszügiger Innenhof konzipiert wurde, um den in einem mehrgeschossigen Geviert Wohnungen, Gewerberäume und Kultureinrichtungen untergebracht sind. Die Kalkbreite zeugt vom Anliegen, nicht nur günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sondern neue Formen des Zusammenlebens, eine Durchmischung und soziale Interaktionen zu fördern sowie nachhaltige städtebauliche und ökologische Lösungen zu erproben.

Auch innovative privatwirtschaftliche Unternehmen haben jüngst den genossenschaftlichen Wohnungsbau als Geschäftsfeld vorangetrieben, wie das Beispiel der 2021 bezogenen und von der Halter AG entwickelten Siedlung Huebergass der Entwicklergenossenschaft «Wir sind Stadtgarten» in Bern zeigt. Die 103 mehrheitlich auf Familien ausgerichteten Wohnungen werden nach dem Prinzip der Kostenmiete vergeben, die Gemeinschafts- und Aussenräume sind auf eine soziale Interaktion ausgerichtet, und die Bewohnerinnen und Bewohner verfügen über partizipative Mitbestimmungsmöglichkeiten.

Die politischen Vorstösse und die Bauprojekte zeigen den Aufwind, den der genossenschaftliche Wohnungsbau jüngst erhalten hat. Zwar haben Genossenschaften nach wie vor gegen Widerstände und Vorurteile zu kämpfen, und die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen», gemäss welcher der Anteil des gemeinnützigen Wohnungsbaus im Neubau auf über zehn Prozent hätte angehoben werden sollen, wurde im Februar 2020 von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern abgelehnt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass der dritte Weg des Wohnungsbaus wiederum als eine dem schweizerischen System bestens angepasste Form des preisgünstigen Wohnungsbaus an Strahlkraft gewinnt. Innovative Genossenschaften erproben städtebauliche Lösungen und weisen den Weg zur kostgünstigen und nachhaltigen Versorgung mit Wohnraum. Sie bieten «Mehrwerte, von denen nicht nur die Bewohnerschaft, sondern die ganze Gesellschaft profitiert», wie es Bundesrat Guy Parmelin (SVP) anlässlich des Hundertjahrjubi­läums des Dachverbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz 2019 ausgedrückt hat.18

Genossenschaftssiedlung Huebergass in Bern: Holzfassade und begrünte Aussenflächen. © Halter AG, Damian Poffet
Genossenschaftssiedlung Huebergass der Entwicklergenossenschaft «Wir sind Stadtgarten» in Bern: Blick in die Siedlung mit einer verkehrsfreien Begegnungsstrasse als Mittelpunkt der Anlage. © Halter AG, Damian Poffet

Quellenverzeichnis

  1. Vgl. Müller, Florian: Mieter:innenland Schweiz. Siedlungsprojekte, politische Regulierung und private Interessen im schweizerischen Wohnungsbau, 1870–1974, Diss. Universität Zürich, Zürich 2022.
  2. Vgl. Sotomo GmbH: Gemeinnütziges Wohnen im Fokus. Ein Vergleich zu Miete und Eigentum, Bundesamt für Wohnungswesen, Grenchen 2017.
  3. Ruf, Walter: Das gemeinnützige Baugenossenschaftswesen der Schweiz, Zürich 1930, S. 113.
  4. Schweizerischer Verband für Wohnungswesen (Hg.): Mensch und Wohnen. Schweizerischer Verband für Wohnungswesen, 1919–1969, Zürich 1969, S. 70.
  5. Ebd., S. 13.
  6. Vgl. Bärtschi, Hans-Peter: Industrialisierung, Eisenbahnschlachten und Städtebau. Die Entwicklung des Zürcher Industrie- und Arbeiterstadtteils Aussersihl. Ein vergleichender Beitrag zur Archtektur- und Technikgeschichte, Basel 1983; Kurz, Daniel: Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich 1900 bis 1940, Zürich 2008; Walter, François: La Suisse urbaine, 1750–1950, Genève 1994.
  7. Vgl. Ruf 1930; Wenger, Rudolf: Wohnungsnot und kommunaler Wohnungsbau in der deutschen Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der Kriegs- und Nachkriegszeit, (ohne Erscheinungsort) 1931.
  8. Pflüger, Paul: Die Bekämpfung der Wohnungsnot. Gutachten an den zürcherischen Regierungsrat, Zürich 1920, S. 4 und 20.
  9. Vgl. Kurz, Daniel: Den Arbeiter zum Bürger machen. Gemeinnütziger Wohnungsbau in der Schweiz 1918–1949, in: Schulz, Günther (Hg.): Wohnungspolitik im Sozialstaat. Deutsche und europäische Lösungen, 1918–1960, Düsseldorf 1993, S. 285–304; Schelbert, Marcel: Gemeinnütziger Wohnungsbau im Spannungsfeld zwischen Staat und Privatwirtschaft. Die Vorstände der Wohnbaugenossenschaften Schweiz und ihrer Regionalverbände 1920, 1950, 1980, Masterarbeit Universität Zürich, Zürich 2021; Zitelmann, Reto: «Nackte, feuchte Mauerwände» und das Dach «stellenweise undicht». Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft, Wohnungsnot und Wohnpolitik, in: Rossfeld, Roman; Koller, Christian; Studer, Brigitte (Hg.): Der Landestreik. Die Schweiz im November 1918, Baden 2018, S. 61–78.
  10. Staudinger, Dora: Unser Kampf gegen die Wohnungsnot, in: ABZ (Hg.): Unser Kampf gegen die Wohnungsnot, Zürich [1919], S. 3–14, hier S. 12.
  11. Klöti, Emil, Wohnungspolitik im Dienste des Familienschutzes, in: Schweizerischer Bundesrat: Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren «Für die Familie». (Vom 10. Oktober 1944), in: Bundesblatt 1944 I, S. 865–1143, hier S. 1127.
  12. Koll-Schretzenmayr, Martina: Gelungen – misslungen? Die Geschichte der Raumplanung Schweiz, Zürich 2008, S. 43.
  13. Vgl. Allenspach, Christoph: Architektur in der Schweiz. Bauen im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1998, S. 82–109; Eisinger, Angelus: Städte bauen. Städtebau und Stadtentwicklung in der Schweiz, 1940–1970, Zürich 2004.
  14. Vgl. Bundesarchiv BAR, 7295B#2016/90#1183* Protokolle (1958–1975), Eidg. Wohnbaukommission. Protokoll der 31. Plenarsitzung vom 26. und 27. November 1970, S. 5.
  15. Vgl. Furter, Fabian; Schoeck-Ritschard, Patrick: Göhner Wohnen. Wachstumseuphorie und Plattenbau, Baden 2013.
  16. Vgl. Althaus, Eveline: Sozialraum Hochhaus, Bielefeld 2018; S. 111–116; Schnell, Dieter (Hg.): Die Architekturkrise der 1970er-Jahre, Baden 2013; Zberg, Nadine: Von der Gartenstadt in den Stadtdschungel. Stadtkritik am Anfang und am Ende der städtebaulichen Moderne, in: Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 87–104.
  17. Vgl. Balmer, Ivo; Gerber, Jean-David: Why are housing cooperatives successful? Insights from Swiss affordable housing policy, in: Housing Studies 33 (2), 2017; Cuennet, Stéphane; Favarger, Philippe; Thalmann, Philippe: La politique du logement, Lausanne 2002; Koch, Philippe: The role of housing cooperatives in Switzerland; Working Paper ZHAW, Winterthur 2021.
  18. Wohnen Extra. Die Mieterzeitschrift, April 2019, S. 5.

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2023 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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