Hoffigur, Zeile, Turm

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Daniela Meyer
Visualisierungen
  • Giuliani Hönger Architekten
  • Toblergmür Architekten

Zwischen Basler-, Freihof- und Grundstrasse entsteht eine neue Wohnsiedlung, die den Stadtteil Zürich-Altstetten weiter verdichten wird. Sie ist das Resultat zweier Projektideen, die geschickt miteinander kombiniert werden und eine in die Jahre gekommene Überbauung ersetzen sollen.

Von einem der Balkone fällt der Blick in den grosszügigen Grünraum der Wohnsiedlung, wie vom Projekt Composite Presence von Giuliani Hönger Architekten und Studio Vulkan Landschaftftsarchitektur vorgeschlagen.

Die Firmengeschichte der Halter AG ist eng mit der Entwicklung von Zürich-Altstetten verknüpft. Bei der Gründung des Baugeschäfts für Hoch- und Tiefbau im Jahr 1918 durch Wilhelm Halter hatte dieses seinen Sitz in der damals noch selbständigen Gemeinde Altstetten. Dort erwarb die junge Firma schon bald Wiesland und Bauplätze und erstellte darauf Geschäftshäuser, Industriebauten und Wohnungen. Kurz vor dem frühen Tod von Wilhelm Halter Anfang 1944 entstanden in Altstetten 200 Reiheneinfamilienhäuser, darunter jene am Rudenzweg. Fast zwei Generationen später, in den Jahren 1977 und 1985, folgte in unmittelbarer Nachbarschaft, zwischen Basler-, Freihof- und Grundstrasse, in zwei Etappen eine weitere Siedlung mit 317 Wohnungen. Die unauffälligen dreigeschossigen Häuser mit Waschbetonfassaden sind noch heute im Besitz von verschiedenen Familienmitgliedern.

Bei ihrer Erstellung wurden die «modernen Mietwohnungen» mit der Lage neben dem fast zeitgleich erstellten Shoppingcenter Letzipark angepriesen. Heute hat der betreffende Abschnitt entlang der Baslerstrasse an Glanz verloren. Asphalt und Beton dominieren das Erscheinungsbild; nach einem einladenden Aufenthaltsort im Freien sucht man vergebens. Doch das Quartier wandelt sich. Von der starken Verdichtung, die Altstetten derzeit erfährt, zeugen unter anderem verschiedene bis zu achtzig Meter hohe Hochhäuser. Auch das Geviert Basler-/Freihof-/ Grundstrasse, hier BFG-Areal genannt, verfügt gemäss der aktuellen Bau- und Zonenordnung der Stadt Zürich über grosse Ausnützungsreserven.

Das Projekt Composite Presence greift im Quartier vorhandene Typologien auf, die unterschiedliche Bezüge zur heterogenen Umgebung schaffen.

Grosse Häuser, grosser Freiraum

Wie gross diese Reserven sind, veranschaulichen die Resultate des Studienauftrags für eine neue Wohnüberbauung, den Halter Gesamtleistungen 2022/23 durchführte: Ein Blick aus der Vogelperspektive auf die Baslerstrasse zeigt ein siebengeschossiges Hofgebäude und zwei achtgeschossige Zeilenbauten, hinter denen ein sechzig Meter hoher Turm in die Höhe ragt. Total enthalten die vier Häuser 376 Wohnungen. Auf der strassenabgewandten Seite dehnt sich ein grosser Grünraum aus. Das Ensemble entwarfen Giuliani Hönger Architekten zusammen mit Studio Vulkan Landschaftsarchitektur, deren städtebauliches Konzept sich beim zweistufigen Studienauftrag gegen vier weitere Teams durchzusetzen vermochte.

«Solch grosse Areale an zentraler Lage gibt es heute in Zürich nicht mehr oft», hält Patric Barben, Partner bei Giuliani Hönger Architekten, fest. «Die Neubebauung stellt eine riesige Chance dar für Altstetten, wo grosse Freiräume fehlen.» Dem stimmt auch Urša Habič zu, Partnerin bei Studio Vulkan Landschaftsarchitektur: «Das Quartier ist nach wie vor stark von Industrie und Gewerbe geprägt, und es gibt wenig öffentlichen Raum. Ein Blick auf die Klimakarte macht zudem deutlich, dass es dort viel mehr Grün braucht.» So war man sich im Team schnell einig, dass die Wohnhäuser in die Höhe gebaut werden sollen, damit am Boden genügend Platz für einen parkartigen Raum bleibt.

Die Umgebung der Wohnsiedlung ist heterogen: Nebst den jüngst entstandenen Hochhäusern finden sich Zeilen- und Punktbauten, Reiheneinfamilienhäuser und grossflächige Industrie- und Gewerbebauten. Mit Composite Presence – so die Projektbezeichnung beim Studienauftrag – greifen die Architekturschaffenden vorgefundene Typologien auf und knüpfen Verbindungen über die Arealgrenzen hinweg. «Dazu haben wir die drei Archetypen Hof, Zeile und Turm gewählt», so Patric Barben.

Die drei Figuren unterscheiden sich nicht nur in ihrer Form, sondern sorgen für Vielfalt auf mehreren Ebenen: auf der städtebaulichen und der konstruktiven, hinsichtlich der Wohnungen und in den Details, die von Haus zu Haus variieren.
Patric Barben

Weiterhin widerspiegeln sich die unterschiedlichen Gebäudetypologien auch in den angrenzenden Freiräumen. Westlich des Areals, wo ein Fussweg zwischen dem bereits neu bebauten Nachbargrundstück und dem geplanten Hochhaus hindurchführt, soll ein städtischer Platz mit öffentlichem Charakter entstehen. Südlich der beiden Zeilenbauten, die die Baslerstrasse säumen, erstreckt sich ein grosser Siedlungsgarten. Die mehrteilige Figur im Osten bildet einerseits einen privateren Gartenhof aus, andererseits entsteht durch ihre Setzung parallel zur Freihofstrasse ein schmaler Vorplatz entlang der Baslerstrasse. Dieser leitet zur «Stadtloggia» auf dem benachbarten HIAG-Areal über – einem gedeckten, halböffentlichen Raum, der bereits in Ausführung ist.

Urbane Schnittlösung führt zu ungewöhnlichem Vorgehen

Prägnante Gebäudetypen, grosse Grünräume und eine Komposition, die auf die verschiedenen Nachbarschaften reagiert: Viele Merkmale, die Composite Presence auszeichnen, finden sich auch beim Projekt Lili von Toblergmür Architekten und Uniola Landschaftsarchitektur wieder. So erstaunt es nicht, dass ein klarer Entscheid zugunsten eines der beiden Projekte, die im Rahmen der zweiten Stufe des Studienauftrags weiterbearbeitet wurden, dem Beurteilungsgremium nicht leichtfiel. Statt zwischen die beiden benachbarten Hochhäuser – eines davon existiert bereits, das andere ist in Planung – einen weiteren Turm zu setzen, schlugen Toblergmür Architekten zwei über fünfzig Meter hohe Gebäudescheiben vor, auch dies eine Typologie, die in Altstetten bereits vorhanden ist. Sie begleiten die halböffentlichen Wege, die durch das Quartier führen, während an der Baslerstrasse zwei sechsgeschossige Zeilenbauten die angrenzenden Räume fassen. Ergänzt um zwei weitere Gebäudekörper, entstehen zwei u-förmige Figuren, zu denen je ein grosszügiger Grünraum gehört. «Die beiden Zeilenbauten stehen am Übergang zwischen der Baslerstrasse und dem abgesenkten Terrain auf der Seite der Wohnhöfe», erklärt Gabriel Gmür. «Strassenseitig enthalten die Erdgeschosse hohe Atelier- oder Wohnräume, hofseitig ist der Raum auf zwei Wohneinheiten verteilt.» Anders als beim Konkurrenzprojekt von Giuliani Hönger liegen die Schlafzimmer der Erdgeschosswohnungen auf der Hofseite. «Entlang der Strasse Wohnräume oder Ateliers anzubieten, erachten wir als möglich, da die Häuser nicht direkt an den Strassenraum grenzen und dieser zukünftig ebenfalls zu einem attraktiven Freiraum werden soll», ergänzt Samuel Tobler. Damit verweist er auf die Absicht der Stadt Zürich, die Baslerstrasse in den kommenden Jahren in «den längsten Park der Schweiz» zu verwandeln. Der Gebäudequerschnitt ist eine urbane Antwort auf dieses Vorhaben und gefiel dem Beurteilungsgremium.

Eine Hoffigur, zwei Zeilenbauten und ein Hochhaus in der zweiten Reihe: Die Vogelperspektive zeigt die städtebauliche Komposition, mit der Giuliani Hönger Architekten das Beurteilungsgremium überzeugte.
Die Kombination der beiden Projekte der zweiten Verfahrensstufe, Composite Presence und Lili, von Südosten betrachtet. Die Architekturbüros Giuliani Hönger und Toblergmür haben gemeinsam ein Baugesuch ausgearbeitet.
Der Wettbewerbsbeitrag Lili von Toblergmür Architekten antwortet mit hohen Atelier- oder Wohnräumen entlang der Baslerstrasse auf das Vorhaben der Stadt Zürich, diese in den «längsten Park der Schweiz» zu verwandeln.

Aus diesem Grund empfahl es eine Kombination der beiden Projekte der zweiten Verfahrensstufe zur Ausführung: Basierend auf dem Gesamtkonzept des Projekts Composite Presence mit den drei prägenden Figuren und dem grosszügigen Freiraum, sollen die darin vorgesehenen Zeilenbauten gemäss dem Vorschlag des Projekts Lili umgesetzt werden. Dieser Empfehlung ist Halter gefolgt und hat nach Abschluss des Studienauftrags im Juni 2023 die beiden Zürcher Architekturbüros Giuliani Hönger und Toblergmür beauftragt, zusammen mit Studio Vulkan Landschaftsarchitektur das Baugesuch für das BFGAreal auszuarbeiten.

Dass zwei Projekte auf diese Art zusammengeführt werden, ist kein alltägliches Vorgehen. «Die ungewöhnliche Kombination ist nur möglich, weil es Verwandtschaften gibt zwischen den beiden städtebaulichen Ansätzen», ist Samuel Tobler überzeugt. Beide Teams schauten über die Arealgrenzen hinaus und strebten eine allseits gute Anbindung ans Quartier an. Daraus resultierten bei beiden Projekten grosszügige, nach Süden geöffnete Freiräume, die ein Gegengewicht zu den grossmassstäblichen Gebäudetypologien schaffen.

Neue Grosszügigkeit statt Fortschreiben des Bestands

Diese Gemeinsamkeiten sind es auch, die Composite Presence und Lili von den anderen drei Projekten des Wettbewerbs unterscheiden, die nach der ersten Stufe des Verfahrens ausgeschieden sind. Die kleinteiligeren städtebaulichen Lösungsansätze vermochten das achtköpfige Beurteilungsgremium, darunter auch ein Vertreter des Amts für Städtebau der Stadt Zürich, nicht zu überzeugen. Wobei zu erwähnen ist, dass unter diesen Projekten jenes am meisten Interesse erzeugte, das sich mit dem Bestand aus den 1970er- und 1980er-Jahren auseinandersetzt. Das Projekt Viletto von Boltshauser Architekten und dem Landschaftsarchitekten Maurus Schifferli zeigt das städtebauliche Potenzial auf, das der bestehenden knapp fünfzigjährigen Wohnsiedlung zugrunde liegt. Mit präzisen Eingriffen und einer Kombination von aufgestocktem Bestand, Rück- und Neubau transformieren sie das Areal auf zukunftsweisende Art. Die kleinteilige Struktur erlaubt eine hohe Durchlässigkeit des Gevierts, vermochte aber nicht restlos zu überzeugen gegenüber der freiräumlichen Grosszügigkeit, welche die zwei zur Weiterbearbeitung empfohlenen Projekte aufweisen. Dazu kamen Unsicherheiten in Bezug auf die Bewilligungsfähigkeit des aufgestockten Bestands, beispielsweise hinsichtlich Raumhöhen und Lärmgrenzwerten.

Komplett verschwinden soll die in die Jahre gekommene Wohnsiedlung dennoch nicht. Vorgesehen ist, deren Betondecken in Elemente mit zwei bis drei Metern Seitenlänge zu zerlegen und diese beim Hofgebäude als Deckenplatten zu verwenden. Zudem bleibt die vorhandene Tiefgarage teilweise erhalten. Äusserlich wird das Geviert aber nicht wiederzuerkennen sein: Wer sich in ein paar Jahren durch die Baumallee der Baslerstrasse bewegen wird, wird dort an einem schmalen Platz vorbeikommen, gefolgt von einer 129 Meter langen Wohnzeile, deren vorgelagerte Balkonschicht den grünen Strassenraum belebt. Am westlichen Ende der Zeile wird ein Platzraum die Passantinnen und Passanten zum öffentlichen Erdgeschoss des zurückversetzten Turmes leiten.

Als Wilhelm Halter vor über hundert Jahren damit begann, das Gesicht von Zürich-Altstetten mitzuprägen, ahnte er wohl nicht, dass auf dem von ihm erworbenen Geviert einst ein Hochhaus und weitere Gebäude mit insgesamt 376 Wohnungen stehen würden – ein Projekt, für das im Februar 2024 der Name Letzigarten kreiert wurde.

Erdgeschoss, zusammengeführtes Projekt: Der Zeilenbau von Toblergmür Architekten fügt sich wie selbstverständlich in die städtebauliche Grundordnung des Entwurfs von Giuliani Hönger Architekten ein.
Regelgeschoss, zusammengeführtes Projekt: Die drei unterschiedlichen Gebäudetypologien sorgen nicht nur bei den angrenzenden Aussenräumen für Vielfalt, sondern auch in den Wohnungen.
Ansicht Ost, zusammengeführtes Projekt: Der Zeilenbau steht am Übergang zwischen der Baslerstrasse und dem abgesenkten Terrain. Sein Querschnitt reagiert geschickt auf den Strassenraum, weshalb dieser Gebäudetyp von Toblergmür Architekten zur Weiterbearbeitung empfohlen wurde.
Ansicht Süd, zusammengeführtes Projekt: Zwischen dem Hochhaus und der Hoffigur von Giuliani Hönger Architekten spannt sich ein grosszügiger Freiraum auf, gefasst durch die lange Zeile von Toblergmür Architekten.

Giuliani Hönger Architekten

wurde 1991 von Lorenzo Giuliani und Christian Hönger ins Leben gerufen. Die Gründer führen das Büro heute gemeinsam mit fünf Partnern. Ihr Werk umfasst eine Vielzahl von Bauaufgaben, wobei öffentliche Bauten eine wichtige Rolle spielen. Darunter sind zahlreiche Bildungsbauten wie die 2003 fertiggestellte Zürcher Fachhochschule Sihlhof oder das St. Galler Fachhochschulzentrum FHS, 2013. Zu den laufenden Projekten zählen das Klinikum 2 des Universitätsspitals Basel, die Erweiterung des Bahnhofs Stadelhofen in Zürich, das Fachhochschulzentrum Graubünden in Chur oder die Pilatus Arena mit Wohntürmen in Kriens. → giulianihoenger.ch

Studio Vulkan Landschaftsarchitektur

entstand 2014 in Zürich durch den Zusammenschluss zweier Landschaftsarchitekturbüros. Mit der 2016 eröffneten Niederlassung in München erweiterte sich der Wirkungsradius des Studios. Zu den wichtigsten realisierten Projekten zählen der Hochschulcampus Toni-Areal in Zürich und der Erholungsraum Butzenbüel am Flughafen Zürich – beides Vorhaben, denen komplexe Aufgabenstellungen zugrunde lagen. Das Büro zählt rund vierzig Mitarbeitende und wird von Lukas Schweingruber, Dominik Bueckers, Florian Strauss, Urša Habič und Christoph Abt geleitet. → studiovulkan.ch

Toblergmür Architekten

wurde von Samuel Tobler und Gabriel Gmür gegründet, die sich bereits seit ihrer Schulzeit in Luzern kennen. Nach dem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeiteten sie bei Gmür & Geschwentner, wo sie für die Wettbewerbe verantwortlich waren. 2014 gründeten sie ihr eigenes Büro. Die ersten Wettbewerbserfolge im Wohnungsbau liessen nicht lange auf sich warten: Auf mehrere zweitrangierte Projekte, darunter das Zollhaus und das Koch-Areal, folgten die ersten Siege. Derzeit in Planung respektive im Bau sind Triemli 4 in Zürich und Industriestrasse in Luzern, beides genossenschaftliche Wohnbauten, sowie die 200 Wohnungen umfassende Überbauung Lindental in St. Gallen. → toblergmuer.ch

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2024 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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