Ein Dorf beim Bahnhof Bulle
Die Westschweiz erlebt derzeit einen tiefgreifenden städtebaulichen Wandel, der eng mit der Modernisierung ihrer Verkehrsnetze verbunden ist. Ein von den SBB initiierter Prozess fokussiert insbesondere auf Gebiete rund um Bahnhöfe und transformiert diese zu lebendigen Ouartieren. Parallel dazu werden Bahnbrachen für neue Stadtviertel freigegeben. Das Projekt Velâdzo am Bahnhof Bulle ist Teil dieses Prozesses. Der von Itten+Brechbühl und Strata Architecture entworfene Wohn- und Geschäftskomplex schliesst direkt an den Bahnhof an und fügt sich in neue öffentliche Räume ein.
Es handelt sich um einen Knotenpunkt. Unmittelbar am Bahnhof Bulle, zwischen einem neuen Gebäudeensemble und dem künftigen Bahnhofplatz gelegen, beteiligt sich der von Itten+Brechbühl und Strata Architecture entworfene und zusammen mit der Halter AG realisierte Bau an der Gestaltung der Stadt. Neben der Aufnahme von Geschäftsflächen, die für den neuen Auftakt zur Stadt Bulle wichtig sind, verbindet er die verschiedenen Nutzungen und Ebenen des neuen Quartiers. Dafür wurde die Form des offenen Blockrands gewählt, der auf einem durchbrochenen Sockel mit zwei Geschäftsebenen steht und an den öffentlichen Raum anschliesst. Für die horizontalen und vertikalen Verbindungen sorgt der Einbau eines zentralen, natürlich belichteten Atriums. Auf der einen Seite der unteren Ebene verlängert ein grosses Volumen den künftigen Bahnhofplatz bis in das Einkaufszentrum hinein. Gleichzeitig wurde eine Verbindung zur Unterführung geschaffen, die den Reisenden unmittelbaren Zugang verschafft. Auf der oberen Ebene führt das Atrium direkt zu Bahnsteig 1 und einem höher gelegenen Platz, den es mit einer Ladenfront belebt.
Eine Vielzahl von Programmen
Die integrierende Funktion des Sockels, der die öffentlichen Räume auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft, die Passagierströme in die Stadt leitet und gleichzeitig eine eigene Dynamik entfaltet, steht für die Komplexität dieses Projekts, in das zahlreiche Akteure involviert waren. So erfüllt dieser Teil der Entwicklung sowohl die Anforderungen an einen wichtigen öffentlichen Raum als auch jene an ein multimodales Drehkreuz, das die Züge der Freiburger Verkehrsbetriebe (TPF) mit dem regionalen Busbahnhof, den Gemeindebussen und der durchgängigen Fuss- und Veloverbindung Voie verte verknüpft. Darüber hinaus stellt das Bauwerk die Logistikwege für die Geschäfte sicher und bietet dem Quartier Parkplätze in einem Parkhaus, das sich über das Grundstück hinaus unter den neuen Bahnhofplatz schiebt. Da das Projekt Teil eines Vorhabens zur Aufwertung des Stadtviertels und damit von regionaler Bedeutung ist, werden der Zugang und bestimmte technische Anlagen mit der Nachbarschaft gemeinsam genutzt, etwa die Fernkältestation oder die Fotovoltaikanlage auf dem Dach. Die Verflechtung der verschiedenen Nutzungen und die unterschiedlichen Bezüger stellten eine echte Herausforderung für die Planung und die Koordination dar. Hinzu kam die hohe Komplexität des Bauprojekts selbst, die sich aus der Vielzahl der Programme, die es beherbergt, ergibt.
Der Eingang zur Stadt
Über dem Einkaufszentrum stehen zwei grosse lineare Gebäude so, dass sie zu beiden Seiten des Blockrands den Blick in die ferne Landschaft freigeben: auf der einen Seite zum Dent de Broc und auf der anderen Seite zum Moléson, dem Wahrzeichen der Freiburger Voralpen. Die um einen begrünten, die regionalen Typologien frei interpretierenden Hof angeordneten Volumen sind so platziert, dass sie die vermittelnde Rolle des Sockels fortsetzen. Im Norden grenzt das eine L-förmige Gebäude an den Bahnhofplatz und markiert den Kopf des Ensembles, im Süden bildet das zweite L eine Front entlang der Gleise und kanalisiert den Zugang zur Stadt vom Bahnsteig aus. Die Durchbrüche, die sich zwischen den zwei Gebäuden auftun, sorgen für Luft und Licht in diesem relativ dicht bebauten Bereich.
Sozusagen als Echo auf das Atrium des Einkaufszentrums bildet der Innenhof das Herzstück des Projekts. Er verbindet und erschliesst die beiden Gebäude. Das Thema der bewusst gesetzten Durchbrüche prägt das Projekt von oben bis unten, abgestimmt auf die jeweilige Nutzung. Diese Vertikalität wird durch das vom Hof über das Atrium bis ins Parkhaus einfallende natürliche Licht noch unterstrichen. Die Ankunft unter der Erde wird so zur Inszenierung. Darüber hinaus erhält der Hof durch die geschaffenen Sichtbezüge zum Bahnsteig und zum oberen Platz die gleiche Durchlässigkeit wie das Atrium. Er ist als privater Aussenbereich gedacht, der die Aussicht auf die Stadt und die entfernte Landschaft ermöglicht und den Mietern einen Ort der Begegnung und Besinnung anbietet.
Rund um den Innenhof sind in den Erdgeschossen beider Häuser Büros und Gewerbeflächen untergebracht, darunter auch eine Kindertagesstätte. In den vier Etagen darüber befinden sich 76 Mietwohnungen. Die einzige Ausnahme dieser geschichteten Nutzung bildet ein Hotel am südwestlichen Ende der Anlage, das sich über die gesamte Höhe des Gebäudes erstreckt und in der fünften Etage ein Bistro- Restaurant beherbergt. Das Viersternehotel und die projektierte qualitätsvolle Wohnungsausstattung, deren Standard doch erschwinglich bleibt, zeigen den Willen der Bauherrschaft zur Aufwertung der Immobilie und die Bedeutung des Bauprojekts für die zukünftige Entwicklung der Stadt Bulle.
Homogene Vielfalt
Auf den oberen Etagen sind die durchgesteckten Wohnungen in Nord-Süd-Richtung angeordnet. Einige nur auf eine Seite hin ausgerichtete kleinere Wohnungen – Studios und Zweizimmereinheiten – sind auf der Südseite zu finden. Sie verfügen über eine Loggia, deren Lage das Wohnzimmer gliedert oder verlängert. In den Dreizimmerwohnungen bietet die Anordnung der Schlafzimmer zu beiden Seiten des Wohnzimmers den Mieterinnen und Mietern die nötige Flexibilität, die Räume ganz nach Belieben zu nutzen. An den jeweiligen Gebäudeenden wurden grössere Wohneinheiten mit unterschiedlichen Typologien untergebracht.
Die Grundrissorganisation wird durch eine Stahlbetonstruktur ermöglicht, die auf einem unregelmässigen Raster mit Breiten von 3,20 bis 3,80 Meter zwischen den Schlaf- und Wohnzimmern basiert. Die Schichtung der Programme stellt immer eine Herausforderung für das Zusammenwirken von Grundrissen und Struktur dar. In diesem Fall wurden die Geschäftsflächen jedoch dem strukturellen Raster der Wohnungen angepasst, wobei die Trennwände punktuell als tragende Scheiben genutzt werden. Im Parkhaus hingegen mussten 60 Zentimeter hohe Abfangträger eingebaut werden, die die Lasten der Gebäude aufnehmen, sie umverteilen und gleichzeitig der Gestaltung der Parkplätze Rechnung tragen.
Die Fassade nimmt den inneren Raster auf: Vorgefertigte Betonelemente, denen Zuschlagstoffe aus dem Jura einen beigen Farbton verleihen, gliedern die Oberfläche und geben ihr eine netzartige Struktur. Das abgekantete Profil der vertikalen Pfeiler sorgt für eine Dynamik, die mit der Strenge des Rasters bricht. Zum Fassadenkonzept gehört auch das Spiel einer Richtungsumkehr dieser Schrägen entsprechend den Fugen der horizontalen Bänder, was den Eindruck einer zufälligen Verteilung vermittelt und visuelle Bewegung erzeugt. Zwischen den Betonpfeilern greift eine Füllung aus mit Blech verkleideten Verbundplatten die dunkle Farbe der Fensterrahmen auf. Die ebenfalls lackierten Geländer fügen sich in die Komposition ein und verstärken die beabsichtigte Kontrastwirkung.
Urbanes Dorf
Wie viele Grundstücke, bei denen es sich um ehemalige Brachen der Freiburger Verkehrsbetriebe handelt, musste auch dieses Stück Land vor Beginn der Bauarbeiten saniert werden. Die Altlastenentsorgung wurde jedoch durch die umfangreichen Erdarbeiten erleichtert, die für das Projekt nötig waren. Neben der Tatsache, dass die Bauarbeiten während der Coronapandemie mit den damit verbundenen Einschränkungen durchgeführt wurden, war auch die Koordination der verschiedenen Projektbeteiligten eine echte Herausforderung für die Bauleitung. All diese Anstrengungen wurden jedoch mit dem von der Zeitschrift «Bilan» in Zusammenarbeit mit dem Verband der Schweizerischen Immobilienwirtschaft SVIT vergebenen Westschweizer Immobilienpreis «Prix de l'immobilier romand 2022» in der Kategorie «Bâtiments mixtes» belohnt. Die Auszeichnung wurde sowohl für das Pflichtenheft des Bauherrn als auch für das Projekt der Architekten sowie für die Ausführung durch den Totalunternehmer verliehen.
Schliesslich beschlossen die Freiburger Verkehrsbetriebe als Eigentümer der Liegenschaft, die Anlage unter dem Namen Velâdzo – das Wort steht im Freiburger Dialekt für «Dorf» – zu vermarkten. Die Wahl eines Begriffs aus dem ländlichen Vokabular für ein Projekt mit städtischem Charakter überrascht zunächst, doch sie zeigt auch den Willen der Bauherrschaft, die angestrebte Urbanisierung der Region voranzutreiben, ohne aber die Lebensqualität, die hier zu finden ist, zu beschneiden.
Das Bauwerk bietet einerseits Ausblicke auf die charakteristische Landschaft rundum sowie Begegnungsräume auf der Ebene des Stadtviertels. Andererseits entstanden ansprechende Wohnungen unterschiedlichen Zuschnitts, die direkt ans Verkehrsnetz angebunden sind. Das Projekt, das für die Stadt Bulle im Moment ehrgeizig erscheinen mag, nimmt eine vernünftige und wünschenswerte Stadtentwicklung mittelgrosser Städte vorweg, für die die Mobilität der Zukunft ein starker Treiber sein wird.