Der Wohlstand frisst seine Kinder

Text und Grafik
Martin Neff

Die fehlende Verdichtung und überteuertes Bauland sind nur ein Teil des Problems. Der Markt der Schweizer Wohnimmobilien krankt auch daran, dass durch die Individualisierung und die ungebremst hohe Zuwanderung immer mehr Wohnraum nachgefragt wird. Die Verknappung hat verheerende Auswirkungen: Arme Haushalte müssen einen wachsenden Teil ihres Einkommens zum Wohnen ausgeben. Eine Entwicklung, die durch die jahrzehntelange Tiefzinspolitik der Schweizer Nationalbank noch befeuert wurde, die die Eigentumsquote hochschraubte und einen Umverteilungsprozess von Arm zu Reich in Gang setzte.

Die Schweiz ist eine Insel des Wohlstands. In sämtlichen internationalen Rankings, die wirtschaftlich relevante Indikatoren bemessen, schwingt Helvetia obenauf. Meist liegt sie auf einem Podestplatz und nicht selten auf Platz eins. Namentlich die politische Stabilität, ein schlanker Staat, die hervorragende Infrastruktur und ein gut funktionierendes Bildungssystem sowie effiziente öffentliche Dienstleistungen sind Garanten für eine ausserordentlich hohe Wettbewerbsfähigkeit. Dem Unternehmenssektor wird zudem eine besondere Effizienz und Produktivität attestiert. Demzufolge ist hierzulande das Pro-Kopf- Einkommen eines der höchsten der Welt. Alles in Butter, möchte man konstatieren. Die Schweiz ist schliesslich auch seit nunmehr bald zwei Dekaden – mit ganz wenigen Unterbrechungen – ein klassisches Zuwanderungsland. Sie hat beispielsweise die USA, die diesem Ruf jahrzehntelang gerecht wurden, gemessen an der Nettomigration pro Einwohner längst überflügelt. Eine überdurchschnittliche Zuwanderung ist ein sehr zuverlässiges Indiz für eine hohe Standortqualität und prosperieren- den Wohlstand.

Neue Haushalte in der Schweiz entstehen durch Individualisierung, Geburtenüberschuss und ein Mehr an Zuwanderung. Quelle: BFS, Raiffeisen Economic Research

Die Schweiz droht jüngst jedoch zum Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Denn seit geraumer Zeit kommt es infolge der überdurchschnittlichen Bevölkerungszunahme vielerorts zu Engpässen. Namentlich die Verkehrsinfrastruktur ist überlastet und der Wohnungsmarkt zusehends am Anschlag. Qualitativ ist das Angebot zwar hochstehend, quantitativ ist es aber alles andere als ausreichend. Wer in der Rush-Hour auf Schiene oder Strasse unterwegs ist, kann ein Lied davon singen. Ebenso, wer in einem der pulsierenden Wirtschaftszentren eine Wohnung sucht. Das braucht Zeit und Geduld, und meistens müssen Wohnungssuchende Kompromisse eingehen, anstatt in die ersehnte Traumwohnung einziehen zu können. Ein Teil dieser Misere hat strukturelle Ursachen, ein anderer ist hausgemacht. Das heutige Dilemma hat seinen Ursprung im bald dreissig Jahre andauernden Wohneigentumsboom und wurde durch die Finanzkrise 2008 noch verschärft. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dreht man das Rad der Zeit am besten ein paar Dekaden zurück.

Auf den Spuren der Geschichte

Der Immobiliencrash der frühen 1990er-Jahre erstickte eine ungeheure spekulative Blase. Auf die jeweiligen Verhältnisse hochgerechnet war das damalige eidgenössische Desaster mit der Subprime-Krise in den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichbar. Der Wertverlust hierzulande belief sich auf etwa60 Milliarden Schweizer Franken, fast einen Drittel des damaligen Bruttoinlandprodukts. Die Bewältigung der Krise nahm Jahre in Anspruch. Der Mythos des stabilen Wirtschaftsstandorts Schweiz geriet ins Wanken. Gleichzeitig war dies aber auch ein wirtschaftlicher Neuanfang und die Geburtsstunde des Schweizer Wohneigentumsbooms. Da infolge des Crashs Land- und Immobilienpreise harsche Korrekturen erfuhren, die Baukartelle zerfielen, demzufolge die Baukosten in den Keller rutschten und ab 1994 die Zinsen deutlich sanken, wurde das Wohnen in den eigenen vier Wänden erstmals im damaligen Land der Mieter auch für breite Bevölkerungskreise erschwinglich. Gleichzeitig wurde in dieser Phase Stockwerkeigentum schweizweit salonfähig – zuvor waren Eigentümer faktisch ausschliesslich Haus-, aber nicht Wohnungsbesitzer – und eine extrem expansive Wohnbauförderungspolitik 1994/95 wirkte wie ein zündender Funken.

Sodann sorgten nicht mehr klassische Rezessionen, sondern eine Anhäufung von Finanzkrisen für wirtschaftliche Verwerfungen. Das Dotcom-Debakel im Jahr 2000, die Subprime- Krise in den USA 2007/08 sowie die Eurokrise 2011 bis 2013 hatten jeweils denselben Ausgang. Die Zinsen fielen und fielen – in der Schweiz, dem Hort der Stabilität in allen diesen Wirren, am stärksten und schliesslich sogar tief in den negativen Bereich. Dass diese Tiefzinspolitik auch eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen erzeugte, nahm die Schweizerische Nationalbank in Kauf. Und so kam ein Umverteilungsprozess historischen Ausmasses in Gang, der auch heute noch anhält, trotz des jüngst moderaten Zinsanstiegs; ein Umverteilungsprozess von Arm zu Reich, sprich von Sparern zu Anlegern oder Schuldnern und für den Immobilienmarkt von Mietern zu Eigentümern.

Hätte das Mietrecht der Schweiz, wie eigentlich vorgesehen, funktioniert, hätten nicht nur die Kosten für Eigentümer, sondern auch für Mieter sinken müssen. Was nicht geschah. Ob das nun daran liegt, dass nur wenige Mieter die ihnen infolge gesunkener Referenzzinssätze zustehenden Mietsenkungen eingefordert oder Eigentümer diese den Mietern nicht weitergereicht haben, tut im Grunde nichts zur Sache. Fakt ist aber, dass sich eine riesige Schere zwischen der finanziellen Belastung von Eigentümern und derjenigen von Mietern aufgetan hat. Diese Verzerrungen wirken bis heute nach und dürften irreversibel bleiben. Denn es ist eher unwahrscheinlich, dass steigende Zinsen ebenso zaghaft überwälzt werden wie sinkende. Hinzu kommt, dass seit geraumer Zeit die Nachfrage nach Wohnraum das Angebot übersteigt. Die Attraktivität des Standorts Schweiz und die geschilderten Entwicklungen der Vergangenheit haben den Wohnungsmarkt überstrapaziert. Wir befinden uns daher im Jahr 2023 in einer Phase einer gleich dreifachen, strukturell bedingten Mangellage.

Die Situation ist angespannt

Erstens: Wir bauen insgesamt zu wenig. Zweitens: Wir bauen am falschen Ort. Drittens: Wir bauen für die Klasse und nicht für die Masse.

Zu Punkt eins ist festzuhalten, dass sich der Nachfrageüberhang aus zwei Gründen akzentuiert. Zum einen wegen der ungebremsten, hohen Zuwanderung, zum anderen wegen der gehobenen Ansprüche. Die Haushalte werden immer kleiner (Stichwort Individualisierung), die beanspruchte Fläche pro Kopf nimmt immer noch leicht zu (siehe Grafik S. 118 oben). Zu Punkt zwei ist zu spezifizieren, dass die Bautätigkeit an den gefragten Standorten – den pulsierenden Wirtschaftszentren im Mittelland – zu dünn ausfällt, während an peripheren Lagen Wohnungen leer stehen, die niemand will oder braucht. Angesichts knapper Baulandreserven und harzig funktionierender Verdichtung ist das Bauland dermassen teuer geworden, dass es beinahe unmöglich ist, günstigen Wohnraum bereitzustellen. Folglich konzentrieren sich die Investoren auf höherwertigen Wohnraum: Eigenheime oder hochpreisige Mietwohnungen für die solvente Klientel. Obwohl es vor allem an günstigem Wohnraum fehlt (Punkt drei).

Anteil der Wohnkosten inklusive Nebenkosten am Bruttohaushaltseinkommen nachEinkommensklassen (Quintile). Quelle: BFS (Haushaltsbudgeterhebung)

Eine Insel des Wohlstands

Ist eine Lösung in Sicht? Wohl kaum, schon gar nicht in nützlicher Frist! Solange die Grenzen des Wachstums nicht in den Fokus des gesellschaftlichen und politischen Dialogs rücken, und auch dem grundsätzlich liberalen Verständnis der Schweiz widerstrebende Themen wie Migrationsbeschränkungen, sozialer Wohnungsbau oder gar Wohnraumkontingentierung nicht auf die Agenda gehoben werden, kann der Mangel vorläufig nur angebotsseitig gelöst werden. Nur: Allein von einem Kochbuch voller schöner Bilder wird bekanntlich niemand satt. Verdichtung ist zweifellos das Rezept der Zukunft, aber das Gelingen scheitert an den nötigen Ingredienzen.

Dasselbe gilt für die Bereitstellung günstigen Wohnraums. Akute Engpassfaktoren dieses Dilemmas sind der Mangel an Bauland, nicht mehr zeitgemässe oder gar noch verschärfte Bauvorschriften und der Trend der Zeit, gegen alles und jeden erst mal Einsprache zu erheben, egal, ob man betroffen ist oder nicht. Letzteres ist eindeutig ein Wohlstandssyndrom, womit wir wieder am Anfang dieser Ausführungen angelangt wären.

Was auf der Insel des Wohlstands nämlich gern untergeht, ist die Frage nach dessen Verteilung und dessen Umverteilung über die Zeit. Da sieht die Bilanz der Schweiz nicht so rosig aus. Vor allem für die 20 Prozent der einkommensschwächsten Haushalte (erstes Einkommensquintil) ist die finanzielle Belastung des Wohnens auf über einen Drittel des Einkommens gestiegen, währenddessen die 20 Prozent der einkommensstärksten Haushalte (fünftes Einkommensquintil) für Wohnen lediglich 10 Prozent des Einkommens benötigen. Seit 2012 müssen gar alle Haushalte ausser den 20 Prozent Topverdienern prozentual mehr fürs Wohnen ausgeben (siehe Grafik).

Es steht also ausser Frage: Wir brauchen nicht nur mehr Wohnraum, sondern vor allem mehr erschwinglichen Wohnraum. Und dies dort, wo heute schon das Bauland knapp und die zögerlich-harzige Verdichtung nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist.

Martin Neff

ist seit April 2013 Chefökonom der Raiffeisen-Gruppe. Er war nach Abschluss seines Studiums der Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz zunächst als Berater bei der S & Z GmbH in Allensbach, Deutschland, tätig, bevor er 1988 zum Schweizerischen Baumeisterverband (SBV) in Zürich wechselte. Dort wirkte er als Bereichsleiter für Konjunkturbeobachtung. Ende 1992 trat er in die Economic Research der Credit Suisse ein, baute dort Schweiz Research auf und leitete diese. 2008 wurde er zum Leiter der gesamten Economic Research und Chefökonomen der CS ernannt. Martin Neff ist neben seiner breiten ökonomischen Expertise ein ausgewiesener Kenner der Schweizer Immobilienmärkte. Seine Analysen waren und sind ein wichtiger Bestandteil der Expertise von Credit Suisse und Raiffeisen in wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Themen. Martin Neff ist zudem als Fachrat und Dozent im Institut für Finanzdienstleistungen (IFZ) in Zug tätig und lehrte an der Donau-Universität in Krems, Österreich, Immobilienökonomie. Seit Mai 2023 ist er Mitglied des Verwaltungsrats der Halter AG. → www.raiffeisen.ch

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2023 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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