Der totale Vergleich

Text
Caspar Schärer
Fotos
Franca Pedrazzetti

An einem Tag im März 2018 betraten alle Beteiligten Neuland: Beim ersten durchgängig digitalen Studienauftrag der Schweiz mussten nicht nur die eingeladenen Architekturteams umdenken, sondern auch und vor allem die Jury. Pläne auf Papier und Gipsmodelle waren nicht mehr gefragt, dafür dreidimensionale Daten. Die virtuellen Modelle wurden von der ausrichtenden Raumgleiter AG aufbereitet und dann der Jury in einer Augmented-Reality-Umgebung präsentiert.

Der Raum ist eigentlich ganz normal: rechteckig, durchgehender Boden, flache Decke, Fensterfront zum Innenhof. Wer etwas im Stil des legendären War Room aus Stanley Kubricks Film «Dr. Strangelove » erwartet hat, wird vom Decision Room bei der Firma Raumgleiter an der Pfingstweidstrasse in Zürich enttäuscht sein. Ein paar Dinge fallen aber doch schon beim ersten Betreten auf. So ist der rund 80 Quadratmeter grosse Raum ganz in Schwarz gestrichen; eine Stirnseite wird komplett von einer LCD-Wand eingenommen; die gegenüberliegende Seite dominiert ein 84-Zoll-Touchscreen, an der längeren Wand hängen acht weitere hochformatige 60-Zoll-Touchscreens.

Heute tagt im Decision Room die Jury des Studienauftrags vanBaerle-Areal. In dem zweistufigen Konkurrenzverfahren geht es um die Umnutzung eines ehemaligen Industrie-Areals an strategisch bedeutender Lage in der Nähe des Bahnhofs der Baselbieter Gemeinde Münchenstein. Acht Teams, bestehend aus Architektur- und Landschaftsarchitekturbüros, wurden eingeladen. So weit, so normal. Ab hier beginnt das Neuland. Halter Entwicklungen, die Ausloberin des Studienauftrags, führte erstmalig in der Schweiz einen durchgehend digitalen Wettbewerb durch. Das klingt im ersten Moment nicht weiter spektakulär. Was heisst schon «digital»? Die landläufige Vorstellung davon ist, dass alles schneller und günstiger wird, und erst noch auf Knopfdruck.

Daniel Kapr navigiert mit der VR-Brille im digitalen Modell, während sich Silvan Bohnet, Naomi Hajnos und Anna Jessen (v. l. n. r.) austauschen.

Naomi Hajnos, Architektin

«Es war sehr spannend zu sehen, wie die verschiedenen technischen Möglichkeiten im Rahmen des digitalen Studienauftrags eingesetzt wurden und wie unterschiedlich die Beteiligten im Laufe des mehrtägigen Prozesses damit umgingen. Wenn auch punktuell die atmosphärische Dichte der Wettbewerbsbeiträge etwas in den Hintergrund rückte, war doch die vereinfachte Vergleichbarkeit der Entwürfe – insbesondere auf der städtebaulichen Ebene – ein zentraler Vorteil gegenüber einem klassischen Verfahren. Die Herausforderung wird allerdings sein, dass den Architekten ein Mass an Selbstbestimmung in Bezug auf den gestalterischen Ausdruck erhalten bleiben kann.»

Informierte Daten

Beim Studienauftrag vanBaerle-Areal hatte die komplette Digitalisierung des Verfahrens für alle Beteiligten erhebliche Folgen. Silvan Bohnet, Mitglied der Geschäftsleitung bei Halter Entwicklungen, spricht von «Shifting Baselines» und einer «Verschiebung und Veränderung von gewohnten Referenzpunkten». Konkret heisst das: Es werden keine Pläne ausgedruckt und keine Gipsmodelle gebaut; die Teilnehmer geben ausschliesslich digitale Daten ab, die der Jury auf den Bildschirmen im Decision Room präsentiert werden.

Für die Jurymitglieder, die bis anhin immer nur Pläne an Stellwänden und Modelle beurteilt haben, ist eine solche Abgabe ebenfalls eine Umstellung. Im ersten Moment fehlt die Übersicht, die eine Papierpräsentation liefert. Architektinnen und Architekten verwenden viel Zeit für die Darstellung ihres Projekts. Sie nutzen den Spielraum, der ihnen eine Abgabe von vier bis sechs A0-Blättern bietet. Grundsätzlich anders ist das bei der digitalen Abgabe nicht. Die Pläne werden im PDF-Format eingereicht und auf den Screens gezeigt. Es sind zwar jeweils nicht alle Darstellungen eines Projekts gleichzeitig sichtbar, aber daran gewöhnt man sich schnell.

Der Quantensprung, oder wie es heute so schön heisst, die Disruption, passiert woanders, nämlich beim 3D-Modell. Die Modelle konnten in die virtuelle Umgebung eingefügt werden, etwa in diejenige des vanBaerle-Areals, und so lässt sich sehr schnell der Ausdruck der Bauten begutachten; wie sie sich zum öffentlichen Raum verhalten und wie sie zusammenwirken. Gerade für komplexe städtebauliche Verfahren bringen solche 3D-Modelle (und damit verbunden die entsprechenden Visualisierungswerkzeuge – doch dazu später mehr) eine neue, bis anhin noch unbekannte Beurteilungsebene für die Jury. Bis es allerdings so weit ist, dass sich ein Jurymitglied die Virtual-Reality-Brille überziehen und durch den virtuellen Raum stapfen kann, braucht es einige Vorbereitungen.

Die Daten, aus denen das 3D-Modell für den Studienauftrag vanBaerle-Areal aufgebaut ist, sind auch in ihrem Wesen digital; sie sind Trägerinnen von Informationen. In der Fachsprache sagt man, sie seien «informiert». Sie stellen nicht mehr nur die Abbildung von etwas dar, sondern sind vielseitiger. Eine Wand, eine Decke, ein Balkon, eine Treppe, ein Fenster sind Objekte und transportieren mehr Informationen als Striche, Punkte oder Schraffuren. Sie «wissen» im 3D-Modell, was sie sind. Von alleine haben ein Strich und eine Fläche diese Informationen jedoch nicht; jemand sollte sie ihnen verleihen. Die Architektinnen und Architekten müssen also ihr 3D-Modell so aufbauen, dass alle Elemente «informiert» sind.

Die Anforderungen an das Modell sind laut Ausloberin bewusst niedrig gehalten; statt eines bildnerischen Meisterwerks ist ein «Rohling» gewünscht, den die IT- und Visualisierungsspezialisten bei Raumgleiter weiterbearbeiten. Sie sind sozusagen die «Dolmetscher», welche die heterogenen Daten der Architekturbüros in einheitliche Modelle übertragen. Die daraus resultierenden 3D-Modelle tragen, abgesehen von den architektonischen Merkmalen, keine plangrafischen Handschriften der Architekten mehr – sie sind auf ihre räumliche Substanz reduziert.

Am Besprechungstisch im Descision Room beschreibt Anna Jessen mit grosser Geste ihren Standpunkt. Dahinter einer der 60-Zoll-Touchscreens.

Anna Jessen, Architektin, jessenvollenweider architektur

«Keine Papierpläne, keine Zeichnungen oder atmosphärischen Darstellungen, die eine persönliche Handschrift unterstreichen. Dafür der reine Raum im dreidimensionalen Weissmodell. Absolut und gnadenlos vergleichbar. Die Übersetzungsaufgabe der Jury rückte in den Hintergrund. Dafür konnten wir gemeinsam über die ‹reine› Architektur, Proportion und Sichtbezüge diskutieren, aber eben auch über genauso direkt sichtbare, nicht gelöste Situationen und Resträume. Das digitale Modell wird die Zukunft sein, und wir werden sehen müssen, dass die Projekte nicht im abstrakten Weissmodell stehen bleiben, sondern ihre Verfeinerung in der Übersetzung in die tatsächlich gebaute Realität erfahren – eigentlich wie immer.»

Im virtuellen Raum

Bevor die Modelle der Jury präsentiert wurden, führten die Spezialisten von Raumgleiter mit allen Architekturbüros eine technische Zwischenprüfung durch, eine Art «Gut zum Druck». In diesem Moment sahen die Architektinnen und Architekten zum ersten Mal, wie sich die 3D-Modelle in dem einem Gipsmodell ähnlichen, digitalen Umgebungsmodell eingliedern. «Das war für einige ein kritischer Punkt», erinnert sich Daniel Kapr, Architekt, Partner bei der Raumgleiter AG und IT-Leiter des Studienauftrags. «Aber wir konnten diese schwierige Hürde meistern.»

Silvan Bohnet, Leiter Entwicklungen bei der Halter AG, erkundet einen Wettbewerbsbeitrag auf einem der Touchscreens im Decision Room an Zürichs Pfingstweidstrasse.

Silvan Bohnet, Leiter Entwicklungen, Halter AG

«Neuland zu betreten, heisst, Referenzpunkte zu verlassen. Das haben die an diesem neu entwickelten, digitalen Wettbewerbsverfahren Beteiligten definitiv gemacht. Die phasengerechte Konzentration auf das Wesentliche und der Einsatz massgeschneideter virtueller Realität waren nicht Selbstzweck, sie entfalteten maximalen Wirkungsgrad: Die Planung mit intelligenten und verwertbaren Daten fand schon im Entwurfsprozess statt, um eine hervorragende Vergleichbarkeit und ein Höchstmass an städtebaulicher und architektonischer Qualität zu erzielen. Das muss der Anspruch eines verantwortungsvollen Immobilienprojektentwicklers sein.»

Die Zeit ist reif

Am Jurytag im März 2018 zeigt sich, dass die Vereinheitlichung und Neutralisierung der 3D-Modelle für deren Beurteilung auf der architektonisch-städtebaulichen Ebene eine richtige Entscheidung war. Mehr Informationen, etwa über die Materialien und die Farben der Fassaden, würden in dieser noch frühen Phase des Planungsprozesses nur ablenken.

Ein Jurymitglied hat sich die grosse Brille aufgesetzt und taucht in die Virtual Reality des van- Baerle-Areals ein. Andere Juroren können das Geschehen an der raumhohen LCD-Wand live mitverfolgen. Sie «stehen» mitten im virtuell aufgebauten vanBaerle-Areal und überprüfen den architektonischen Ausdruck und die städtebaulichen Raumbildungen der eingereichten 3D-Modelle auf Augenhöhe im «Stadtraum». Der «Guide» mit der Brille «umrundet» das Gebäude, sieht sich die andere Fassade an, «springt» schliesslich auf einen Balkon im sechsten Obergeschoss und lässt dort den Blick schweifen.

Daniel Kapr wechselt auf Knopfdruck den Projektbeitrag im 3D-Modell. Die Fassade weicht zurück und macht einer Vorgartenzone Platz, gleichzeitig schnellen Balkone nach vorne. Ein Raunen geht durch die Jury. Die Vergleichbarkeit ist total – und gnadenlos. Für viele mag diese digitale Unerbittlichkeit im Aufdecken von Stärken und Schwächen seelenlos wirken. Es muss aber festgehalten werden, dass durch diese Methode erstmals Städtebau und Architektur wirklich gemeinsam beurteilt werden können. Ein Schritt, der in der Schweiz längst fällig war.

Daniel Kapr, Leiter Virtual Design & Construction bei der Raumgleiter AG, steht vor der grossen LCD-Wand und bewegt sich im virtuell erstellten vanBaerle-Areal.

Daniel Kapr, Leiter Virtual Design & Construction mit BIM, Raumgleiter AG

«Die intensive Zeit der Vorbereitung und das gemeinsame Definieren der Ziele zwischen Halter und Raumgleiter waren entscheidende Faktoren für die erfolgreiche Durchführung. Wir konnten die notwendige Bestellerkompetenz aufbauen und gegenüber den Teilnehmern sicher unsere Bedürfnisse formulieren. Wir haben immer sehr genau gewusst, was wir wann in welcher Qualität haben möchten. Wichtig ist, dass man jetzt getreu dem Motto ‹Lessons Learned› agiert und es in den folgenden Wettbewerben schafft, einen noch flüssigeren Prozess zu etablieren. Zusammenfassend war der digitale Studienauftrag vanBaerle-Areal aber für alle Beteiligten ein grosser Erfolg.»

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2018 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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