Der die Welt verändern will
Bjarke Ingels – Dänemarks neuester, aufsehenerregender Kulturexport – greift mit seinen Projekten die weitverbreitete These an, Moral und Spass würden sich gegenseitig ausschliessen. Im Interview gibt der 42-jährige Architekt und Gründer des weltweit tätigen Büros Bjarke Ingels Group (BIG) einen faszinierenden Einblick in seine Arbeit. Es scheint so, als würden wir gerade erst beginnen, ihn zu verstehen.
Was Bjarke Ingels von den meisten seiner Kollegen unterscheidet, ist die Fähigkeit, sein Publikum mit Geschichten zu fesseln. Ob es darum geht, wie er es schaffte, Kopenhagens Wahrzeichen, die «Kleine Meerjungfrau», an der Expo 2010 in Shanghai auszustellen; wie er eine Skipiste auf eine Müllverbrennungsanlage baut, die Rauchringe ausstösst, während sie Abfall in Energie umwandelt; wie sein Dryline-Projekt das tägliche Leben der New Yorker angenehmer und sicherer machen soll. Ingels selbst glaubt so sehr an das, was er sagt, dass die Zuhörer gar nicht anders können, als sich auf seine Welt einzulassen. Seine Gewissheit vertreibt alle Zweifel und entwaffnet jede Art von Zynismus. Ingels überredet nicht, er erklärt. In Live-Präsentationen, mit Videos, Comics, Diagrammen, Texten, Zeichnungen, Renderings. Jedes Mal führt uns seine Rhetorik zur Schlussfolgerung, die er gezogen hat. Wenn Erzählungen die Welt verändern können, in was für einer Welt leben wir dann? Es ist ein angespannter Ort. Wir haben seinen chemischen und geologischen Aufbau verändert. Kann Architektur eine Antwort geben? Gemäss Bjarke Ingels schon.
KOMPLEX: Wenn Sie ein Projekt angehen, was kommt zuerst, die Geschichte oder der Entwurf?
Bjarke Ingels: Es ist wie mit dem Huhn und dem Ei. Beides entwickelt sich zusammen. Architektur, das ist, die Welt, wie sie existiert, zu betrachten und eine Möglichkeit der Modifikation zu finden. Sie soll unsere Umgebung ein wenig interessanter, aufregender, vergnüglicher oder funktionaler machen. Sobald ein Projekt fertig ist, stellt sich die Realität anders dar – Architektur ist weltverändernd. Jedes Mal, wenn wir neu beginnen, analysieren wir die Situation, identifizieren ihre Schwächen sowie nicht erkannte Synergien und Potenziale, die freigesetzt werden könnten. Dies formt die Geschichte. Jede Stufe unseres Entwurfs wird mit dieser Story abgeglichen. So sehen wir, ob wir das tun, was wir gesagt haben; ob wir die Probleme adressieren, die wir gesehen haben; ob wir Antworten auf die Fragen finden, die wir gestellt haben. Am Schluss müssen wir die Geschichte nur noch zu Ende erzählen.
Eine Geschichte kann starke Kraft entfalten. Lässt sich ein Vorhaben damit in die gewünschte Bahn lenken?
Natürlich. Ein Problem, das ich bei vielen Architekturpräsentationen sehe, ist, dass das Design und die Geschichte völlig voneinander losgelöst sind. Leute reden stundenlang über eine Philosophie oder was auch immer, und am Ende erkennt man nichts davon im Entwurf. Bei uns entwickelt sich beides gleichzeitig. Der Entwurf soll die physische Manifestation der Geschichte sein.
Basiert Architektur auf Rhetorik, darauf, wie ein Gebäude funktioniert, oder geht es darum, Kunden zu überzeugen?
Die Geschichte wird nicht nachträglich erfunden. Sie ist keine Verkaufsmasche. Sie ist die DNA des Entwurfs, und das Storytelling erklärt dessen Fundamente.
Die Ausstellung «Hot to Cold: An Odyssey of Architectural Adaptation» im National Building Museum in Washington D. C. zeigte Ihre Werke im Kontext der Ökologie. Darin entwerfen Sie in Anlehnung an Bernard Rudofskys MoMA-Ausstellung «Architecture Without Architects» den Slogan «Engineering Without Engines». Wir alle haben das Scheitern von grüner Architektur erlebt, die eine fragmentarische Lösung für ein systemisches Problem war. Inwiefern ist «Engineering Without Engines» anders als grüne Architektur?
Wir sind nicht an Zertifizierungen oder Ökolabels interessiert. Uns interessieren Wege, die mit einem Entwurf aktiv Antworten auf dringliche Fragen unsere Umwelt geben. Mit der Moderne kamen Haustechnik, Lüftung, Klimatisierung, Zentralheizung, isolierte Fenster und elektrisches Licht. Das machte uns unabhängig von der Umwelt. Maschinen erlaubten uns, so zu bauen, wie wir wollten, und am Ende hatte die Architektur gar keine Aufgabe mehr. Sie wurde zu einem Gefäss für Raum, der von Maschinen künstlich erhalten wird. Mit Formen, die keine richtige Funktion mehr hatten, wurde die Architektur immer langweiliger. Wir mussten die Postmoderne erfinden, damit wir willkürliche Formen hinzufügen konnten, die das Ganze wieder spannend machten. Anstatt Nachhaltigkeit nur als Antwort auf die Klimakrise zu sehen und mit einem System wie LEED unser schlechtes Gewissen zu beruhigen, könnten wir die Thematik im Skelett eines Gebäudes verankern. Vielleicht könnten wir die Abhängigkeit von Maschinen, die unsere Bauwerke so ärmlich macht, kompensieren, indem wir einen Teil der Verantwortung für die Umwelt in der Geometrie der Hülle oder der Ausrichtung des Volumens verarbeiten. Das Hochhaus, das wir gerade im chinesischen Shenzhen bauen, hat eine gefaltete Haut, ähnlich einem Issey-Miyake-Kleid, die grundlegend zum Vokabular des Gebäudes beiträgt. Sie verringert den Kühlbedarf um 30 Prozent.
Architektur ist die Neuprogrammierung von Rohstoffen auf bedeutungsvolle, intelligente Art.
Die Bauindustrie, einschliesslich Eisenerztagebau und Zementproduktion, ist eine der umweltschädlichsten Branchen überhaupt. Wenn Architekten sich wirklich um die Umwelt sorgen würden, dürften sie nicht bauen.
Das stimmt nicht. Haben Sie den Film «The Revenant» gesehen? Da wird einem bewusst, wie glücklich wir sein können, dass wir Gebäude haben. Architektur ist die von Menschenhand geschaffene Erweiterung unserer Umwelt. Wenn dies intelligent gemacht wird, ist es kein Problem. Es ist nichts falsch daran, Energie zu nutzen oder Rohstoffe umzuverteilen und neu zu konfigurieren. Die Erde tut das auch: tektonische Bewegungen, Lavaströme, Sedimentation, Erosion, Flüsse, die Felsen auswaschen, Steine, die zu Sand zerfallen. Bäume wachsen mithilfe von Sonnenenergie und den Nährstoffen aus der Erde. Architektur ist die Neuprogrammierung von Rohstoffen auf bedeutungsvolle, intelligente Art.
Es hört sich so an, als würden Sie das Anthropozän beschreiben, das den Menschen als den Gestalter der natürlichen Welt sieht. Ich frage mich, ob es wirklich ein gutes Modell dafür ist, unseren Platz zu definieren. In seinem 2015 erschienenen Buch «Thinking Like a Mall» deutet der Umweltphilosoph Steven Vogel den Ausspruch «Thinking Like a Mountain» von Aldo Leopold um, der uns bereits 1949 dazu aufforderte, die Welt nicht durch das menschliche Auge zu sehen. Vogels Buch zeigt, dass auch nordamerikanische Biber einen Einfluss auf den geologischen Wandel haben. Bevor wir sie fast ausgerottet hatten, leiteten sie Flüsse mit ihren Dämmen um und beeinflussten so das Bild der Landschaft. Was, wenn wir uns selbst als Teil des Systems sehen würden anstatt an der Spitze der Nahrungskette?
Ich stimme zu. Menschen sollten Teil des Ökosystems sein. Aber gleichzeitig müssen wir uns auch als dessen Bewahrer sehen, weil wir Dämme nun mal schneller und grösser bauen können als Biber. Ich denke, es war Spiderman, der gesagt hat: «Mit grosser Macht kommt grosse Verantwortung.» In der Schweiz gibt es zum Beispiel grüne Brücken, die Menschen für Wildtiere bauen. Das Anthropozän ist keine ideologische Position. Es ist eine Diagnose
Basierend auf einer menschlich zentrierten Ideologie.
Nein, es betrachtet die Kräfte, die den grössten Einfluss auf unseren Planeten haben. Das Anthropozän erkennt gerade dies: Der Bergbau, das Eindämmen von Wasser, das Verbrennen fossiler Stoffe, der Bau von Strassen, die Landwirtschaft und der Kahlschlag unserer Wälder sind die wesentlichen geologischen Faktoren unseres Planeten.
Architekten können sich dieser systemischen Probleme aber nur in einzelnen Projekten annehmen, also Gebäude für Gebäude.
Die griechischen oder jemenitischen Häuser mit natürlicher Kühlung, die Bernard Rudofsky als Beispiele für Architektur ohne Architekten benutzte, wurden alle zur gleichen Zeit gebaut. Die Erfahrung aus dem einen Gebäude machte das nächste besser. Allmählich entwickelten sich Dörfer mit einer gewissen Intelligenz, die aus empirischem Wissen geboren war. Bei BIG haben wir den Begriff «pragmatic utopianism» erfunden – die Idee, unsere Welt mit jedem Projekt ein bisschen besser zu machen, mit jedem Schnipsel Stadt der Traumstadt näherzukommen. Viele denken, Utopien müssten universell umgesetzt werden. Das wird niemals passieren. Wenn man aber akzeptiert, dass Stadt eine Akkumulation von Anstrengungen ist, kann man Stück für Stück voranschreiten. Eine stetige Aufgabe.
Sie wollen Vorbild sein?
Ja. Es gibt nichts Kraftvolleres als erfolgreich gebaute Architektur.
In «Extrastatecraft: The Power of Infrastructure Space» sagt Keller Easterling, dass die Infrastrukturen, die wir um uns herum gebaut haben, an sich ein Gemeinwesen bilden. Das Bankensystem, das Gesundheitswesen, Bauvorschriften, Zonenordnungen, Internetprotokolle. Traditionelle Formen des Widerstands – wie David gegen Goliath – sind nicht länger brauchbar. Sie haben kürzlich gesagt, dass es wichtig ist, die eigentlichen Entscheidungsträger zu identifizieren, wenn man Veränderung bewirken will. Was meinen Sie damit?
Ich benutze gerne das Wort «Worldcraft», um auf das Potenzial von Architektur hinzuweisen. Sie hat nicht nur die fiktive Möglichkeit, eine neue Welt zu erschaffen, sie kann dies tatsächlich und stösst damit Veränderungen an. Architektur ist mehr als eine Projektion, sie ist ein Manifest. Es ist wichtig, vor die Öffentlichkeit zu treten, aber es ist noch wichtiger, den Entscheidungsträgern die wahren Alternativen aufzuzeigen. Unsere Müllverbrennungsanlage in Kopenhagen ist ein gutes Beispiel. Auf dem Dach wird es eine Skipiste geben, weil in der Stadt im Winter so viel Schnee liegt. Unser Dryline- Projekt, ein U-förmiger Wall vor Lower Manhattan, beweist, dass Schutzmassnahmen gegen das Ansteigen des Meeresspiegels nicht Aufgabe von Ingenieuren sind. Grossmassstäbliche Infrastruktur muss keine Robert-Moses-Scheusslichkeit sein, sie kann ein faszinierendes und umsichtiges Upgrade für den Ort darstellen – und ihn zugleich noch sicherer machen. Ich mag den Gedanken, dass die Zeit verkrusteter politischer Fronten vorbei ist. Architektur hat die Kapazität, beide Seiten zusammenzubringen und Mischformen zu erzeugen, die weder rot noch blau, liberal noch konservativ, demokratisch noch republikanisch sind. Es geht darum, eine Stellung zu beziehen, die von beiden Seiten informiert ist und für beide Seiten steht.
Der Begriff «Worldcraft» weist auf Ihre Faszination für Videospiele und deren schöpferische Kraft hin. Sie sprechen davon, Städte zu verändern, neue Welten zu schaffen. Wenn Sie den Architekten als Weltenmacher sehen, ist Ihre politische Meinung ziemlich wichtig.
Ich mag den Begriff «sozialer Liberalismus». Architektur soll Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und demografischen Hintergründen ermöglichen, auf einem limitierten Stück Land zu leben. Ziel ist, das Potenzial für jeden Einzelnen zu maximieren, ohne den anderen einzuschränken. Idealerweise hätten alle Bürger eine kostenlose Gesundheitsversorgung und Ausbildung. Sozialversicherungen würden dafür sorgen, dass keiner hungert und jeder einen Platz zum Leben hat. Gleichzeitig darf niemand zu hoch besteuert und seines hart verdienten Geldes beraubt werden. Der Fokus muss darauf liegen, die menschliche Unternehmungslust und Initiative zu fördern und ein Höchstmass an Freiheit zu garantieren, während die kollektive Sicherheit gewährleistet ist.
Wir sollten nicht jedem Trend folgen, nur weil der Zeitgeist das so will.
Ihre Begeisterung für «Minecraft» bringt mich auf Rem Koolhaas’ Adaption von Salvador Dalis paranoisch-kritischer Methode, die eine müde Welt erneuern will, indem sie falsche Fakten präsentiert und sie so lange wiederholt, bis sie eines Tages wahr werden. Science-Fiction ist faszinierend, kann aber auch bedrohlich sein. DDT war die Wunderchemikalie, die Plagen beseitigte, bevor wir realisierten, dass sie auch alles andere vernichtet. FCKW kühlt unsere Häuser, zerstört aber die Atmosphäre. Wem oder was kann man heute noch vertrauen? Woher nehmen wir die Kraft für Neues?
Stellen Sie sich einen Seiltänzer vor: Seine Balance benötigt eine konstante Verlagerung des Gewichts. Man kann nicht die Balance halten, wenn man in einer fixen Position steht. Wir haben noch nicht einmal den richtigen Weg beim Essen gefunden: Viele sagen, eine vegetarische Ernährung sei das Beste, für andere soll es nur Fleisch sein, und schliesslich sind Kohlenhydrate nicht mehr erlaubt. Wir sollten nicht jedem Trend folgen, nur weil der Zeitgeist das so will. Müssen wir Air-Condition nun verteufeln? Nein. Sie macht unbewohnbare Orte bewohnbar. Aber es ist verrückt, riesige Einkaufszentren in Dubai auf 18 Grad herunterzukühlen.
Die Klimaforschung ist eine Wissenschaft, die fast nur auf Modellen beruht. Anhand von Daten wird versucht, die Welt der Zukunft zu verstehen. Auch Architekten sind darin geübt, Modelle zu entwerfen. Mit ihrer Hilfe kann man etwas Ungewisses in die Realität projezieren. Fühlen sich Architekten wie Klimaforscher wohl im Konditional?
Etwas, worüber ich in letzter Zeit viel nachgedacht habe, bei dem ich mir aber nicht sicher bin, welche Formen es in der Zukunft annehmen wird, ist die Religion. So viel Verwüstung in unserer Welt wird mmer noch durch Religion und das Aneinandergeraten verschiedener Kulturen ausgelöst. Gleichzeitig gibt es in vielen privilegierten Teilen der Welt eine neue Welle von Spiritualität – sie nimmt soziale Funktionen wahr, die von den grossen Kirchen nicht bedient werden. Nietzsche würde sagen, dass Leute eine populäre Fiktion einer weniger beliebten Tatsache vorziehen. Ich würde gerne ein bisschen Zeit damit verbringen, über Religion nachzudenken, ihre Entwicklungen zu verstehen und welche Formen sie heute annehmen könnte.
Ist Religion wichtig für unsere Gesellschaft?
Natürlich. Religion bewahrt die Menschlichkeit.