«Atmosphere is my style»

Das Kunstmuseum Luzern zeigt mit seiner Turner-Schau die bisher bedeutendste Ausstellung des Hauses. Und wie der britische Meistermaler auf Luzern und die Rigi sah. Sechsmal reiste er in die Schweiz und hinterliess uns Bilder, die das Wesen der Berge selbst zu ergründen suchen. Die Halter AG unterstützte die Publikation des begleitenden Ausstellungskatalogs.

William Turner (1775–1851) wird den Berg, den er so oft malt, nie besteigen. Das Massiv über dem Vierwaldstättersee, die Rigi. Er malt sie in Blau, rot leuchtend, im Nebel fast verschwindend, schwebend. Nie aber zieht es den sonst so Wanderlustigen hinauf. Das überlässt er den anderen. Turner selbst wohnt in Luzern gern im Hotel Schwanen am Seeufer, heute ist dies das Café de Ville. Hier sitzt er am Fenster, schaut rüber zum Wasser und skizziert mit Bleistift die wechselnden Stimmungen von Licht und Wetter. Oder er steigt in aller Herrgottsfrühe an Bord des Dampfschiffs, das ab 1836 auf dem See verkehrt. Zurück im Hotel, ergänzt er seine Zeichnungen und Aquarelle teilweise mit weiteren Farben, um sich später im Londoner Atelier besser erinnern zu können. Hier verarbeitet er seine Skizzen zu leuchtenden Aquarellen und Ölgemälden. Immer wieder zeichnet und malt er die Rigi, in der Abenddämmerung, am Morgen. «Die blaue Rigi, Sonnenaufgang» von 1842 gilt als Meisterwerk unter Turners späten Aquarellen. Das Werk ist einer der Höhepunkte der Ausstellung «Turner. Das Meer und die Alpen», die gerade im Kunstmuseum Luzern zu sehen ist. Lange verweilt man vor diesem Bild. Betrachtet die dünnen, durchscheinenden Farbschichten. Den hellen Morgenstern. Angeblich liess sich der Künstler extra einen Fingernagel lang wie eine Kralle wachsen, um solche Details herauszukratzen. Erhaben, fast sakral ist die Stimmung dieses Aquarells. In ihrer Überhöhung gebrochen durch einen den Enten nachjagenden Hund am unteren Bildrand. Man meint sein Bellen zu hören, das ins Wasser platschen der Vögel.

Joseph Mallord William Turner, «The Blue Rigi, Sunrise», 1842, Aquarell auf Papier, 29.7 x 45 cm, © Tate, London, 2019

Es rumort auf seinen Bildern, es wuchtet und wogt.

Nun sind die Werke also da, wo sie einst ihren Anfang nahmen. Sie feiern das 200-Jahr-Jubiläum der Kunstgesellschaft Luzern, des Trägervereins des Kunstmuseums. Es sei die bisher bedeutendste Ausstellung des Hauses, liess dessen Direktorin Fanni Fetzer verlauten. Drei Jahre Vorbereitung gingen dem voraus und die enge Zusammenarbeit mit der Tate Britain in London. «Die Tate hat jede Woche eine Anfrage für eine Turner-Ausstellung», sagt Fetzer. Sie verwaltet und erforscht Turners Nachlass, ohne deren Zusage hätten keine Leihgeber mitgemacht. Die Schau kostet fast zwei Millionen Franken, das Geld wurde zum grössten Teil durch Stiftungsgelder, Gönner, Bildpatenschaften und Sponsoring eingeholt. Fetzer sagt: «Wir verhalten uns jetzt einmal so, als wären wir ein grosses Museum in einer grossen Metropole.» Denn klein denken war sicher auch nicht Turners Art. In der Luzerner Schau sind spektakuläre Schluchten zu sehen, Lawinen, Gewitter, brausende Stürme. Es rumort auf seinen Bildern, es wuchtet und wogt. Und was wären sie ohne diese Wolken? Jene riesigen Formationen, die weiss sind, grau, fast schwarz, gelb oder rosa zuweilen. Tatsächlich liege die Farbigkeit von Turners Himmeln auch in der Luftverschmutzung seiner Zeit begründet. Der Kohlestaub in der Atmosphäre habe damals zu prächtigen Sonnenuntergängen geführt. Turner jedenfalls ist nie beschaulich. Er ist besessen von den Launen der Natur. Und er malt sie in einer Weise, die man bis dahin noch nicht gesehen hat. Er macht das Licht selbst, die Farbe des Wassers, die der Luft zum Thema.

Joseph Mallord William Turner, «The Fall of an Avalanche in the Grisons», ca. 1810, Öl auf Leinwand, 135 x 166 cm, © Tate, London, 2019
Joseph Mallord William Turner, «Rough Sea with Wreckage», ca. 1840/45, Öl auf Leinwand, 192.1 x 122.6 cm, © Tate, London, 2019
Joseph Mallord William Turner, «The Schollenen Gorge from the Devil’s Bridge. Pass of St Gotthard», 1802, Graphit, Aquarell und Gouache auf Papier, 47 x 31.4 cm, © Tate, London, 2019

Und zaghaft ist der Engländer nicht. Sein zeichnerisches Talent wird früh vom Vater gefördert. Der Barbier und Perückenmacher besitzt ein florierendes Friseurgeschäft im Herzen Londons, in Covent Garden. Die Mutter stammt aus einer Schlachterfamilie, ist depressiv und stirbt nach langem Krankenhausaufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung. Als Kind verbringt Turner viel Zeit bei seinen Verwandten auf dem Land, liegt tagelang auf dem Rücken und sieht den Wolken zu, lernt, Kupferstiche zu kolorieren, zeichnet. Der Vater hängt Skizzen seines Sohnes im Schaufenster seines Geschäfts auf und verkauft sie. Der Laden wird zu Turners erster Galerie. Londons Kunstschule, die Royal Academy, ist nicht weit, mit nur 14 Jahren wird er dort Schüler. Ein Wunderkind? Zumindest eines, das seinen Weg unbeirrt geht. Ein Jahr später stellt er sein erstes Aquarell dort aus, eine Ansicht Londons. Neben seinen Studien an der Akademie arbeitet er für Architekten und Bauzeichner. Später reist er durch Nordengland, Wales und das schottische Hochland und dann, der Frieden von Amiens macht es möglich, das erste Mal in die Schweiz. 1802 ist man mit Kutsche und Schiff unterwegs, er übernachtet in Pensionen und Wirtshäusern, unbequem seien die Unterkünfte gewesen, berichtet er später einem Künstlerkollegen. Via Genf, Chamonix, Courmayeur, Aosta und Bern über den Brünig kommt er nach Luzern und auf den Gotthard. In seinen Skizzenbüchern hält er seine Reiseansichten fest. In der Schweiz sucht er nach neuen spektakulären Motiven. Er weiss, dass er in London dafür begeisterte Abnehmer findet. Die Skizzen und Studien seiner ersten Reise dienen dem Maler während der folgenden Jahrzehnte als Inspiration für grossformatige Aquarelle und Ölbilder sowie für Vignetten und Radierungen. In Luzern sieht man eines von Turners Skizzenbüchern.

Joseph Mallord William Turner, «The Rigi», 1844, Aquarell auf Papier, 22.8 x 32.5 cm, © Tate, London, 2019

Ansichten eines Rastlosen

Turner hat bald genug Geld und Chuzpe, um seine eigene Galerie zu bauen. So etwas gab es in der Londoner Kunstszene bis dahin noch nicht. Potenzielle Kunden können hier Aquarelle und Gemälde bestellen. Als Architekturzeichner und Landschaftsmaler arbeitet er mit Kupferstechern und Verlegern zusammen, sorgt dafür, dass seine Arbeiten in Umlauf kommen. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Ab 1841 stellt er detailliertere «sample studies» her, die ihm und seinem Agenten als eine Art Verkaufskatalog dienen. Er lebt mit seinem Vater auf dem Land. Über seine Liebschaften ist wenig bekannt. Es gibt welche, und es gibt Kinder. Im Katalog zur Ausstellung versucht der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom, ihm äusserst lesenswert auf die Spur zu kommen, diesem später pummeligen, eher wortkargen Mann, der grobe Kleidung trug, seinen Farbkasten unterm Arm und einen Zylinder. Der viel reiste, wie das damals zu Bildungszwecken üblich war. Turner ist ein Rastloser: Holland, Belgien, Italien, Frankreich, und immer wieder kommt er in die Schweiz. Fünfmal nach Luzern. Nooteboom schreibt: «Es gibt nicht einen Turner, sondern mehrere. Einen heroischen, einen kontemplativen, einen mystischen, einen studierenden, einen, dem ein einziger Atemzug von Licht und Farbe auf Papier genügt, einen, der sich auf die Gewalt der Sintflut besinnt, einen, der sich vor der Farbenlehre Goethes mitsamt all ihren Implikationen verbeugt, einen, der sich wie wenige vor ihm mit der Bewegung des Wassers beschäftigt, der aber auch in das Wesen und Geheimnis der Berge eindringen will.»

Joseph Mallord William Turner, «A Swiss Lake», ca. 1841, Aquarell und Bleistift auf Papier, 25.1 x 36.7 cm, © Manchester Art Gallery / Bridgeman Images

Die Schau in Luzern zeigt diese Bandbreite. Und wie Turner die Landschaftsmalerei in neue Höhen trieb. Zu sehen sind Bilder der Teufelsbrücke der Schöllenen-Schlucht, ein Blick ins Tal vom Gotthardpass, die Kapellbrücke im Mondschein, ein Sturm auf hoher See. Himmel und Erde, Steilhänge, Bergsilhouetten und Nebelschwaden. Turners Landschaften sind majestätisch, dramatisch, der Mensch darin erscheint verschwindend klein. Was ist das Wesen der Berge, der Wolken, der Gischt? scheinen sie zu fragen. Sie leben allein von Luft und Licht. Die beginnende industrielle Moderne weckte in Turners Zeitgenossen die Sehnsucht nach der unberührten Natur, nach ihrer Schönheit, aber auch nach ihrer Bedrohlichkeit. Nach dem Erhabenen. Und Turner stillte diese. Er sorgte für wohlige Schauer, die einem der Anblick von Schluchten und Stürmen beschert, während man sich selbst sicher weiss. Landschaft ist bei dem britischen Meister nicht länger Szenerie für historische Ereignisse, sondern wird zum eigenständigen Sujet. Ob Turner nun ein Vordenker der Impressionisten war – er malte kaum im Freien, direkt vorm Motiv, sondern meist im Atelier – und wie seine abstrakteren Bilder der späten Jahre einzuordnen sind, sei an dieser Stelle dahingestellt. Die Fachliteratur dazu ist erschöpfend. Dass es ihm jedoch bis heute gelingt, die Menschen auf neue Art sehen zu lassen, davon soll man sich selbst überzeugen. Tritt man aus der Luzerner Schau, aus Jean Nouvels Bau dort am See, sieht man die Berge und die Wolken vielleicht tatsächlich mit Turners Augen.

Joseph Mallord William Turner, «Lucerne by Moonlight: Sample Study», ca. 1842/43, Aquarell auf Papier, 23.5 x 32.5 cm, © Tate, London, 2019

Ausstellung im Kunstmuseum Luzern

Die Ausstellung «Turner. Das Meer und die Alpen» ist noch bis zum 13. Oktober im Kunstmuseum Luzern zu sehen. Am 11. Oktober kann man den Schriftsteller Cees Nooteboom im Gespräch mit dem Co-Kurator Beat Wismer erleben. Von Turners Kunst inspirierte Kompositionen sind ausserdem im Rahmen des Lucerne Festival zu hören. Der Katalog zur Ausstellung enthält weiterführende Texte zu Turners Werk, er kostet 39 Franken.

Empfang mit Einführungstext zu William Turners Werk im Kunstmuseum Luzern. Foto: Marc Latzel
«Turner. Das Meer und die Alpen» läuft noch bis zum 13. Oktober 2019. Foto: Marc Latzel
Eine Karte an der Wand zeigt die Stationen J.M.W. Turners in der Schweiz. Foto: Marc Latzel
Die Ausstellungsräume heben sich durch eine unterschiedliche Farbgebung voneinander ab. Foto: Marc Latzel

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