Abbruch oder Erneuerung?

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  • Balz Halter
  • Ingemar Vollenweider
  • Patrick Schoek
  • Ulrich Widmer

Im Anspruchskanon von Verdichtung, Nachhaltigkeit, Wirtschaft­lichkeit und Heimatschutz.

Patrick Schoeck (45) ist Leiter Baukultur beim Schweizer Heimatschutz. Nach seinem Studium der Geschichte und der Kunstgeschichte in Zürich und Örebro (Schweden) hat er mehrere Jahre Berufserfahrung in der Immobilienwirtschaft gesammelt, ehe er 2011 zu seinem heutigen Arbeitgeber gewechselt hat. Patrick Schoeck publiziert regelmässig zu Themen der Baukultur und der Architekturgeschichte.
→ www.heimatschutz.ch

Bis 2050 muss der Bausektor die Raumbedürfnisse der Schweiz CO₂-neutral abdecken können. Die Ausgangslage: Die Bauproduktion verursacht heute 20 Prozent der Treibhausgas-Emissionen in der Schweiz – ein Absenkpfad ist bisher noch nicht in Sicht.

Haupttreiber des CO₂-Ausstosses sind der ungebremste Materialverbrauch und der Ressourcenverschleiss: Das Bauen verursacht heute mehr als 80 Prozent des Schweizer Abfallbergs. Mit dem jährlich produzierten Abbruchmaterial liesse sich eine meterdicke und zwanzig Meter hohe Mauer von Genf bis nach Kreuzlingen errichten.

Die Logik des Planens und Bauens muss sich ändern. Die Kreislaufwirtschaft ist der Wegweiser. Ihre Prinzipien lauten der Reihe nach: Refuse – überlege zuerst, ob es nicht auch mit Verzicht geht. Reduce – reduziere den Ressourcenverbrauch. Reuse, repair, refurbish – nutze weiter, repariere und ertüchtige. Recycle, recover – wenn keine der vorherigen Lösungen möglich ist, trenne das Material und führe möglichst viel wieder in den Ressourcenkreislauf zurück.

Dass die Anwendung der Kreislaufwirtschaft wirtschaftliche und klimafreundliche Erfolge ermöglicht, zeigt die starke Reduktion des CO₂-Ausstosses bei der Brauchenergie. Die Treibhausgasemissionen beim Heizen und beim Betrieb von Gebäuden sind beinahe auf dem Absenkpfad, um Netto-null bis 2050 zu erreichen. Das Mittel dazu: Heizungsersatz und energetische Renovation – sprich Reparieren und Ertüchtigen. Das Resultat: eine florierende HLK-Branche, die händeringend nach Fachkräften sucht. Einen solchen technologieneutralen Absenkpfad braucht es nun auch beim Planen und Bauen als Ganzes.

Reparieren und Ertüchtigen muss mehr Gewicht erhalten als heute. Wo wir stehen, zeigen aktuelle Stadtzürcher Schulhauswettbewerbe: Die klimafreundliche Stadt stellt es den teilnehmenden Büros frei, ob sie den Bestand abbrechen oder damit weiterbauen möchten. Am Ende entscheidet sich die Jury trotz valablen Alternativen oft für den Ersatzneubau. Die Begründung: Planungssicherheit, baurechtliche Bedenken und Normvorgaben sind so einfacher unter einen Hut zu bringen.

Um zu einer klimaneutralen und wirtschaftlich tragfähigen Kultur des Um- und Weiterbauens zu kommen, sind also Anpassungen am komplexen Gesamtsystem des Planens und Bauens nötig. Für den Wandel von fossilen zu alternativen Energien und Klimaneutralität fehlt uns heute noch die Expertise. Wir brauchen Chancenräume und Anreize für Innovationen. Viele Kantone fördern heute Ersatzneubauten durch eine höhere Ausnutzung. Dieser Anreiz, der die Gesamtemissionen vernachlässigt, könnte zugunsten der Umbaukultur umgedeutet werden: Wer baukulturell überzeugend weiterbaut und nicht abbricht, erhält grössere Flexibilität gegenüber den baurechtlichen Bestimmungen und Normen. Wir werden überrascht sein, welche neuen Formen der Innenentwicklung sich daraus ergeben.

Balz Halter (61) studierte an der ETH Zürich Bauingenieurwesen und an der Universität Zürich Rechtswissenschaften. Er ist Hauptaktionär und Verwaltungsratspräsident der Halter AG und führt das Unternehmen seit 1987.
→ www.halter.ch

Aktuell leben circa 8,9 Millionen Menschen in der Schweiz. Ohne politische Gegenmassnahmen werden wir eine ungebrochene Zuwanderung mit einem Bevölkerungswachstum von gegen 1 Prozent pro Jahr erleben; in gut zehn Jahren haben wir die 10-Millionen Schweiz. Der Elefant steht im Raum. Da wird er wohl bleiben und das Wachstum auch danach weitergehen.

Selbst ohne Zuwanderung steigt der Druck auf die Wirtschaftszentren. Hier finden Menschen Arbeit und Bildung. Hier gibt es attraktive Angebote an Versorgung, Kultur und Mobilität. In den Wirtschaftszentren sind die Bauzonen beinahe ausgeschöpft. Die Umnutzungspotenziale von Industriearealen ebenso. Deshalb steigt der Druck auf die vorhandenen Bauzonen, die bestehen den Siedlungsstrukturen. Wir werden in grossem Mass abbrechen müssen, wenn wir genügend bezahlbaren Wohnraum schaffen und gleichzeitig Landschaft und Naturräume schonen wollen.

Aber wie soll die Siedlungsentwicklung nach innen zukünftig erfolgen? Die heutigen Planungsinstrumente geben darauf keine Antworten. Sie delegieren sie an den Bauherrn, an das einzelne Projekt. Will der Bauherr in relevantem Mass verdichten, wird er auf den Weg der Sondernutzungsplanung verwiesen. Damit setzt er sich jedoch dem vielstimmigen Anspruchskanon von Privatpersonen, Verbänden und staatlichen Fachkommissionen aus, die im politischen Prozess oder über Rechtsmittel ihre spezifischen Interessen durchzusetzen trachten. Er wird diesen langwierigen, kosten- und risikoreichen Prozess im Allgemeinen meiden und nach Standard-Bau- und -Zonenordnung bauen. Vieles wird abgerissen und marginal verdichtet werden. Die viel gepriesene Siedlungsentwicklung nach innen wird weder quantitativ noch qualitativ in gewünschtem Mass erfolgen. Die notwendige gestalterische, dreidimensionale und identitätsstiftende Orts- und Stadtplanung mit umfassender Güterabwägung bleibt aus.

Wir benötigen wieder Stadtplanung und Städtebau. Disziplinen, die mit der rasch wachsenden Mobilität in der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten sind. Stadtplanung ist eine öffentliche Aufgabe. Ebenso der Städtebau, wo es um öffentliche Räume und staatliche Einrichtungen geht. Kantone und Gemeinden wären gefordert. Aber ihnen fehlt es an Willen, Kompetenz und Geld.

Der Brennpunkt liegt in der Agglomeration. Da kann und muss im Interesse der Nachhaltigkeit Verdichtung stattfinden, und zwar in erheblichem Ausmass an Orten, die bereits bestens erschlossen sind. Mit Städtebau werden Zentralität, Urbanität, attraktive Stadträume und vielfältige Angebote geschaffen. Damit entstehen polyzentrische Stadtstrukturen, die Naturräume schonen, genauso wie erhaltenswerte Dörfer, Gartensiedlungen und Einfamilienhausquartiere.

Stadtplanung muss über Kernstädte und ihre administrativen Grenzen hinaus in funktionalen Räumen erfolgen. Das kann und darf nicht von Planungsämtern, Ingenieur- oder Raumplanungsbüros gemacht werden. Dazu braucht es Städteplaner mit interdisziplinären Teams, die in öffentlichen Wettbewerben nicht nur die besten Lösungsansätze hervorbringen, sondern auch eine breite und weit in die Bevölkerung reichende Diskussion entfachen.

Wettbewerbsverfahren in dieser Art fördern Erkenntnisse und Kompetenzen in der Siedlungs-, Orts- und Stadtplanung sowohl bei den Planenden als auch bei den Behörden. Darüber hinaus schaffen sie Verständnis und Einsichten bei der Bevölkerung und den verschiedenen Anspruchsgruppen. Sie erzwingen den dringend notwendigen Diskurs über die Art und Weise innerer Siedlungsentwicklung und die frühzeitige Interessenabwägung und bilden die Grundlage für föderale, demokratisch legitimierte sowie qualitätssichernde und rechtsverbindliche Planungsinstrumente. Die daraus resultierenden erheblichen Ausnützungserhöhungen sichern die Wirtschaftlichkeit, indem sie bedeutende Einnahmen aus Mehrwertabgaben und Gewinnsteuern erzeugen zur Finanzierung von Planungsausgleichen, zur Gestaltung attraktiver Strassen, Plätze und Parks und zur Realisierung der erforderlichen öffentlichen Bauten.

Ingemar Vollenweider (58) studierte an der ETH Zürich und an der Columbia University in New York. Im Anschluss arbeitete er bei Kollhoff & Timmermann in Berlin. 1999 gründete er zusammen mit Anna Jessen das Architekturbüro Jessenvollenweider in Basel. Von 2006 bis 2018 war er Professor für Stadtbaukunst und Entwerfen an der TU Kaiserslautern. Neben seinen regelmässigen Jurytätigkeiten war Ingemar Vollenweider von 2018 bis 2022 Mitglied des Baukollegiums der Stadt Zürich. Seit 2018 leitet er gemeinsam mit Anna Jessen den Lehrstuhl für Städtebau an der TU Dortmund.
→ www.jessenvollenweider.ch

Re-use ist konservativ. Die kulturelle Dimension der Sehnsucht nach Erhalt überlagert sich neu, allerdings mit den materiellen Bedingungen des Klimawandels und der Ressourcenknappheit. Wenn alles grundsätzlich erhaltenswert ist, geht damit gleichzeitig eine Verschiebung der Wertmassstäbe einher: Nicht mehr die nostalgische oder denkmalpflegerische Erinnerung an vergangene Zeiten, die sich in idealen Objekten verkörpert, sondern die Not der Einschränkung prägt die architektonische Triage. Was passiert, wenn Häuser gleichgesetzt werden mit Energie? Und wie verändert sich damit die Einschätzung von Stadträumen, wenn es zum Beispiel um Siedlungen aus den 1970er-Jahren geht?

Früh beeinflusst durch den empathischen Blick von Künstlern wie Fischli / Weiss, die alles – auch typische Siedlungen und Agglomerationen gerade aus ihrer Zeit – fotografiert haben, versuchen wir mit unserer eigenen Arbeit im Büro und in der Lehre immer wieder, uns möglichst vorurteilslos unterschiedlichsten Kontexten zu nähern, mittelmässigen wie einzigartigen, aus
jüngeren und alten Zeiten. Tatsächlich liegt dieser Haltung schlicht auch die Neugier und das Interesse für unterschiedliche architektonische Genres zugrunde und wahrscheinlich auch die Unschuldsvermutung der «good intensions», die wir grundsätzlich jeder architektonischen Tätigkeit unterstellen, auch wenn es manchmal schwerfällt.

Wir haben seit den ersten Projekten selten reine Neubauten realisiert, sondern meistens um- und weitergebaut und mehr als einmal Wettbewerbe gewonnen, weil wir weniger abgerissen haben als vorgesehen. Aber um klar zu sein: Es waren letztlich immer architektonische oder städtebauliche Potenziale des Bestands, die wir wahrgenommen haben und die entsprechende Entscheidungen provozierten. In derselben Konsequenz haben wir auch zerstört, gezielt, aber manchmal auch weiter, als in den ursprünglichen Vorgaben der Denkmalpflege definiert war, im Sinne eines neuen Ganzen.

Auf den grösseren Massstab der Stadt oder des Quartiers übertragen, spitzt sich nicht nur die Dimension des Sozialen zu, sondern insbesondere auch das grundlegende Dilemma der Nachhaltigkeit, die sich zwischen Ressourceneffizienz und radikaler Ressourcenschonung entscheiden kann, also zwischen urbaner Verdichtung und Abrissmoratorium. Angesichts einer existenziellen Krise wäre es zynisch, von einer euphorischen Phase zu sprechen, in der wir uns betreffend Erhalt und Abrissverbot aktuell befinden. «Ideologisch» trifft es wohl eher, und eben das hat selten zu einer besseren Welt geführt. Andererseits scheint das legendäre, gern aus dem Zusammenhang gerissene Zitat «Zerstöre mit Verstand» von Luigi Snozzi nicht mehr auszureichen als Legitimierung für ein Metier der radikal beschleunigten, zunehmend globalen Veränderung. Also plädieren wir für eine Mentalität, die Kreativität aus der Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen, manchmal auch Unscheinbaren entwickelt und dabei das Neue so verantwortungsvoll in die Welt bringt, dass es nicht primär auf Ablaufdatum, Austausch und Ersatz spekuliert, sondern auf architektonische Dauerhaftigkeit und stadträumliche Dichte – und was wäre, wenn dabei als einfache Regel die Ausnützung eines Grundstücks zusätzlich um das Doppelte der erhalten bleibenden Bausubstanz erhöht werden könnte?

Ulrich Widmer (62) ist in Trogen, Appenzell Ausserrhoden, aufgewachsen. Mit 31 Jahren wurde er zum Regierungsrat gewählt und leitete dort die Bau-, Planungs- und Umweltdirektion. Nach Stationen als Direktor des Bundesamtes für Raumentwicklung und in der Industrie ist er heute in der Kibag Holding als CEO tätig, einem Unternehmen mit 2000 Mitarbeitenden im Baustoff-, Umwelt- und Baubereich. Er weist eine über dreissigjährige Erfahrung vor, sowohl als Ingenieur, Planer wie auch aus Behörden- und Unternehmersicht.
→ www.kibag.ch

Vorerst: Die ganz grosse Mehrheit will Licht, Raum, Platz. Dies spricht für Abbruch und Neubau. Auch gilt: Schöne, alte Häuser, namentlich im näheren Kontext zu einem eindrücklichen Stadtbild, sollen, ja müssen erhalten, erneuert werden. Auch emotional hängen wir am Alten, am Schönen, am Ortsbildprägenden. Dies bleibt äusserst wichtig, auch in Zukunft. Es vermittelt uns Einzigartigkeit, Wärme, Kultur, Identität.

Weiter zu beachten, ist: Was ist mit der raumplanerisch so bedeutsamen Verdichtung nach innen, wenn wir vornehmlich erneuern wollen? Ein Umbau verunmöglicht da und dort eine Aufstockung, eine Erweiterung, eine grössere Ausnützung. Fragen zur Statik stellen sich, zu energetischen Auflagen, Aussendämmungen, zum Heizungssystem, zu Brandschutz, zur behindertengerechten Erschliessung. Nüchterne Güterabwägung ist hier gefragt, nicht Ideologie und Zeitgeist. Wirtschaftlich muss es so oder anders aufgehen.

Steile Treppen, enge Gänge, zu kleine Räume, dunkle Küchen, kaum Licht: Die grosse Mehrheit strebt nach Neuem. Wir erkennen das nicht nur in städtischen Gebieten, nein selbst in meiner früheren Heimat, dem Appenzellerland, in dessen ländlich geprägter Streusiedlungskultur mit seinen hochwertigen, arttypischen, landschaftsprägenden, im Grunde wunderschönen Holzbauten geht der Trend umgekehrt. Licht, Raum, Platz.

Eine neue Zeit? Es machen nun neue Begriffe die Runde: Kreislaufwirtschaft, zirkuläres Bauen. Wir handhaben das seit Jahrzehnten schon, nur anders genannt. Wiederverwertung, Renovation, Recycling, Vermeidung von unnötigem Abfall. Immer haben brauchbare Materialien ihren Weg zu einer neuen Nutzung gefunden. Die Akteure waren: Schrotthändler, Kunststoffverwerter, Entsorger, innovative Gewerbebetriebe, die verschiedene Materialien gekonnt auftrennen. Zugenommen hat die konsequente Umsetzung. In städtischen Gebieten wie Zürich gelangt seit Jahren kaum eine Tonne mineralischen Baustoffs – Beton, Backstein, Kalkstein – in eine Deponie, es werden Hunderttausende von Tonnen wiederverwertet zu wiederum neuen, hochwertigen Baustoffen.

Wir sind bei Kibag äusserst stolz darauf, allein im Jahr 2022 eine Menge von 50 000 Kubikmetern CO₂-reduziertem Beton mit bis zu 75 Prozent Abbruchmaterial produziert zu haben. Es wurden 500 Tonnen gasförmiges CO₂ mittels Injektion direkt im Recycling-Betongranulat gespeichert. Um dies bildhaft darzustellen: Die Menge entspricht dem Äquivalent von 40 000 Bäumen, etwa 4 Millionen Autokilometern mit einem modernen Benziner, dem 10-Fachen der Distanz Erde – Mond, über 500 Flugreisen Paris – New York oder 9000 produzierten Smartphones. So können wir heute etwa die doppelte Menge an CO₂ einer mittleren Transportdistanz zu einer Baustelle einsparen. Und das ist erst der Beginn, eine neue Technologie auch für grosse Mengen einzusetzen. Das stimmt uns frohgemut.

So mein Fazit: Eine unvoreingenommene, pragmatische Güterabwägung wird uns den Weg weisen. Wir sanieren, wo es Sinn macht, wir bauen neu, wo es Sinn macht. Dazwischen debattieren wir.

Dieser Artikel ist im Print-Magazin KOMPLEX 2023 erschienen. Sie können diese und weitere Ausgaben kostenlos hier bestellen.

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